Porträt der Politikerin Rachida Dati: Eine angeblich klare Geschichte
"Große Erwartungen" heißt Dickens klassischer Aufsteigerroman. "Falsche Erwartungen" könnte ein Roman heißen, der das Leben der französischen Politikerin nacherzählt.
Mein Leben ist kein Roman", sagte Rachida Dati, als sie die Geschichte ihres märchenhaften Aufstiegs, von der andere gar nicht genug kriegten, selbst nicht mehr hören konnte. Tatsächlich ist kein zeitgenössischer französischer Roman so handlungsreich wie Rachida Datis Leben. "Ich weiß, dass meine Geschichte die Leute neugierig macht."
Ende 2007 erschien ein Buch mit Interviews, die Dati einem Journalisten gegeben hatte. "Urteilen Sie selbst", lautete der Titel sinngemäß. Zu dem Zeitpunkt lief es noch einigermaßen gut für Dati. Doch sie hatte sich bereits einige Feinde gemacht, in der Justiz, bei den Linken und den Konservativen und bei den Wählern. Cécilia Sarkozy, eine ihrer wichtigsten Verbündeten, hatte sich gerade vom Präsidenten scheiden lassen. Dati also wollte "die Wahrheit sagen". "Ich möchte", sagte sie, "dem Klischee entkommen."
Aber das ist ihr nicht gelungen. Es wurden an sie, die Tochter von Einwanderern aus Nordafrika, Erwartungen gestellt, die sie am Ende nicht erfüllte.
Am 7. Juni wurde sie ins Europaparlament gewählt. Nicolas Sarkozy hatte sie auf Platz zwei der Liste seiner Partei, der UMP, gesetzt, die mit knapp 28 Prozent die meisten Stimmen bekam. Auch die Franzosen interessieren sich nicht besonders dafür, was im Europaparlament passiert, die Wahlbeteiligung hatte bei nur 40,5 Prozent gelegen. Politische Karrieren werden nicht in Straßburg gemacht. Nicolas Sarkozy hatte kein Interesse mehr an Dati.
Vor zwei Jahren, als er sein Amt antrat, hatte er sie mit nur 41 Jahren zur Justizministerin gemacht. Nie hatte davor jemand mit nordafrikanischer Abstammung in der Politik einen so wichtigen Posten innegehabt. Wie Sarkozy selbst hatte Dati die École Nationale dAdministration, die ENA, nicht besucht, wo alle wichtigen französischen Politiker einen Abschluss gemacht haben. Sarkozy gab sich im Wahlkampf als Außenseiter, als jemand, der Frankreich erneuern würde. Neben dem zappeligen Sarkozy wirkte Jacques Chirac, gegen Ende seiner Amtszeit ein soignierter älterer Herr, tatsächlich wie ein Relikt aus früheren Zeiten, in der die Uhren langsamer gingen.
Sarkozy fand wirkungsvolle Gesten, die seinen Reformwillen zum Ausdruck brachten. Zum feierlichen Amtsantritt im Élysée-Palast nahm er seine ganze Patchworkfamilie mit, seine beiden Söhne aus erster Ehe, Cécilia mit ihren beiden Töchtern aus einer früheren Ehe und den gemeinsamen Sohn Louis. Er holte sieben Frauen ins Kabinett, ernannte eine gebürtige Senegalesin zur Staatssekretärin, die erste Schwarze in einer französischen Regierung. Er machte den Sozialisten und Gründer von Médecins sans Frontières, Bernard Kouchner, zum Außenminister. Dati nannte er ein "Symbol für die Vielfalt Frankreichs".
Dati, geboren 1965, wuchs als zweitälteste Tochter in einer Familie mit zwölf Kindern auf. Ihre Eltern waren Analphabeten und bettelarm und sind Anfang der Sechzigerjahre aus Nordafrika eingewandert. Ihr Vater stammt aus Marokko und war Maurer, ihre Mutter, eine Algerierin, war Putzfrau (sie starb 2001). Die Tochter half ihr im Haushalt und ging manchmal mit zum Putzen bei anderen Leuten. Offenbar aber beschloss das junge Mädchen schon früh, dass sie ein anderes Leben führen würde, und besuchte ein privates katholisches Lycée. Die Gebühren waren nicht hoch, aber zu hoch für ein Ehepaar aus dem Maghreb. Dati hatte verschiedene Jobs, sie arbeitete als Hilfsschwester im Krankenhaus und als Vertreterin für Kosmetikprodukte. Sie machte einen Bachelor in Wirtschaftswissenschaft in Dijon, in der Gegend, aus der sie stammt, dann ging sie nach Paris. Sie war 22 Jahre alt, und ihr steiler Aufstieg begann.
Auf einem Empfang der algerischen Botschaft, auf den sie sich quasi selbst einlud, sprach sie Albin Chalandon an, den damaligen Justizminister. Er besorgte ihr einen ersten Job bei Elf Aquitaine. "Ich hatte das Gefühl, dass ich ihr helfen musste", sagte Chalandon in einem Fernsehinterview.
Neben ihrem Job in der kaufmännischen Abteilung bei Elf studierte Dati Jura. Sie ging eine Zeit nach London, um für die European Bank for Reconstruction and Development zu arbeiten. Als sie wiederkam, arbeitete sie im Bildungsministerium. Simone Veil empfahl ihr, die Richterausbildung zu machen. Sie wurde Richterin, schließlich Staatsanwältin in Évry bei Paris.
Im September 2002 schrieb sie Sarkozy, zu der Zeit Innenminister, vier Briefe, bis sie einen Termin bei ihm bekam. "Ich ließ ihn nicht zu Wort kommen, bis ich in seinem Gesichtsausdruck sehen konnte, dass meine Argumente ihn überzeugt hatten", sagte sie den Journalisten von Arte in dem Porträt "Aufstieg und Fall einer Ikone". Sarkozy machte sie zur Beraterin in Einwanderungsfragen.
Rachida Dati ist eine gut aussehende Frau. Sie hat ein ebenmäßiges Gesicht, große dunkle Augen und eine Figur, für die die SZ einmal die etwas verschwitzte Formulierung "knabenhaft" fand. Dati hat außerdem eine ziemlich erlesene Garderobe inklusive hoher Schuhe und geschlitzter Kleider: der Dinge also, die Männern gefallen.
Eine schöne Frau, ältere Herren, die sie fördern und über deren Gesicht sich ein versonnenes Lächeln legt, wenn sie über Dati sprechen: Klare Geschichte, sagten sich viele. Es gab auch das Gerücht, Dati hätte ein Verhältnis mit Sarkozy. Ihre Fachkompetenz wurde jedenfalls bald infrage gestellt.
Vor allem von den Richtern, gegen deren Willen sie eine der umfangreichsten Justizreformen seit der Französischen Revolution durchsetzte. Ein Projekt, das dem Präsidenten am Herzen lag. Zahlreiche kleinere Gerichte in der Provinz wurden geschlossen. Dem unabhängigen Richter wurden einige seiner in Frankreich weit reichenden Befugnisse genommen und dem Staatsanwalt zugeteilt, der dem Justizministerium unterstellt ist.
Lange nahm Sarkozy Dati gegen die Anfeindungen in Schutz. Aber mit der Zeit musste auch er feststellen, dass Dati politische Sensibilität fehlt. Es war, als könnte sie bestimmte Sorgen und Ängste nicht nachvollziehen, eben weil sie sie selbst einmal überwunden hatte. Als könnte sie Empfindlichkeiten nicht nachvollziehen, weil sie ihren eigenen Empfindlichkeit nie nachgegangen war.
Dati hat ein ultraliberales Weltbild - ihre Lebenserfahrung besagt schließlich, dass der Einzelne genug Kraft hat, um allein über sein Schicksal zu bestimmen. Aber gerade von ihr hatte man erwartet, sie müsse einen Blick für die sozialen Probleme in Frankreich haben, für die Ungerechtigkeit der Gesellschaft, für die Probleme der Frauen im Allgemeinen und die der muslimischen im Besonderen.
Bald waren alle enttäuscht von ihr. Wenn sie sich zu wichtigen Fragen äußerte, fühlte sich immer jemand auf den Schlips getreten. Irgendjemand war immer beleidigt, gekränkt oder empört.
Vor gut einem Jahr verlangte ein gläubiger Muslim, ein Ingenieur aus Lille, der täglich den Koran las, dass ein Gericht seine Ehe annulliere. Seine Braut hatte ihm zugesichert, ihn jungfräulich zu heiraten, konnte aber, wie der Bräutigam in der Hochzeitsnacht feststellte, dieses Versprechen nicht halten. Das Gericht gab ihm recht unter Berufung auf Artikel 180 des Code civil, der besagt, dass eine Ehe annulliert werden kann, wenn einer der Ehepartner vor der Heirat in einer "wesentlichen" Frage nicht die Wahrheit gesagt hat.
Das Urteil löste Proteste aus. Einige fürchteten, bald würde in Frankreich allein um der kulturellen Vielfalt willen die Scharia in Kraft treten. Andere verstanden das Urteil so, dass der französische Staat Frauen gesetzlich vorschreiben wolle, jungfräulich zu heiraten (ein Missverständnis, das sich schnell ausräumen ließ). Und Rachida Dati sagte, dass es doch für die junge Frau ganz gut sei, wenn sie den Typen los wäre.
Empörendes Urteil
Die Sachlichkeit dieser Feststellung empfanden diejenigen als Provokation, die das Urteil zum Anlass nehmen wollten, um grundsätzlich über den Islam und Frauenrechte zu diskutieren. Dabei war Dati das Schicksal der verlassenen Braut sicher nicht gleichgültig. Sie selbst hatte ihre erste Ehe annullieren lassen. Mit Mitte zwanzig hatte sie, um es ihren Eltern recht zu machen, einen Algerier geheiratet. Die beiden hatten sich nicht viel zu sagen. Nicht gerade eine Zwangsehe, aber auch keine Liebeshochzeit und wohl doch so unangenehm, dass Dati das Gericht überzeugte, die Ehe aufzulösen.
Zwanzig Jahre später ist sie Justizministerin von Frankreich. Wer wollte ihr verübeln, dass sie meint, eine annullierte Ehe sei eine gute Gelegenheit für eine junge Frau aus traditionell-muslimischem Milieu, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen?
Schließlich musste Dati zurückrudern. Sie wies den Staatsanwalt an, Berufung einzulegen. Das Gericht von Douai entschied, dass die Eheleute verheiratet bleiben mussten, und die Geschichte nahm damit ein so kunstvoll ironisches Ende, als hätte Guy de Maupassant sie sich ausgedacht.
Im Januar gab Sarkozy bekannt, Dati scheide aus der Regierung aus und kandidiere für das Europaparlament. Dati tat das, was sie immer getan hatte: Sie biss die Zähne zusammen. Die europäische Sache sei ihr sehr wichtig, sagte sie tapfer.
Sie hatte gerade ihre Tochter geboren, der sie den Namen ihrer verstorbenen Mutter Zohra gab. Fünf Tage danach hatte sie an einer Pressekonferenz des Élysées teilgenommen. Ihr Haar war perfekt geföhnt. Der Bauch wölbte sich noch ein bisschen unter dem schwarzen Etuikleid. Sie wirkte wie eine chinesische Kunstturnerin, die ihre über Monate und Jahre eingeübte Kür nicht unterbricht, nur weil eine Sehne reißt.
Wieder gab es Empörung, Dati habe als Frau eine Vorbildfunktion, sie setze die Frauen unter Druck, auf den gesetzlich vorgeschriebenen Mutterschutz zu verzichten. Mutterschutz? Gute Idee, aber leider keine Zeit, wird Dati vielleicht gedacht haben. Vielleicht hat sie auch an ihre eigene Mutter gedacht, die zwölf Kinder auf die Welt brachte und das Wort Mutterschutz nicht buchstabieren konnte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour