Pop und Transzendentalismus: Musik aus dem Unterholz

Deradoorian, White Poppy und DJ Richard: drei neue Popalben von jungen nordamerikanischen Künstlern und ihre Hinwendung zur Natur.

DJ Richard an der Küste in seiner alten Heimat Rhode Island

Kontemplativ: DJ Richard an der Küste von Rhode Island Foto: Emily Shinada

Was für ein Schauspiel, wenn die glutrote Sonne vor der Küste von Rhode Island am Horizont wie ein Mühlstein in die Fluten des Atlantiks sinkt. „Grind“ nennt der von der US-Ostküste stammende und in Berlin ansässige Produzent DJ Richard diesen für ihn prägenden Vorgang und hat sein Debütalbum danach benannt.

„Grind“ ist Untergang und Aufbruch zugleich, düster, aber auch strahlend wirkt DJ Richards Musik. In den neun Tracks ertönen wuchtige Keyboardriffs. Diese langsam anschwellenden Hooklines sind mit metallisch anmutenden Hallfahnen überzogen, aber der Groove als dominierende Soundsignatur taumelt selbstversunken vor sich hin, so, als würde er sich ins Molekulare auflösen. Eine Frischzellenkur für die erschöpfenden Parameter von elektronischer Tanzmusik.

„Stoner House“ hat jemand den in sich gekehrten Sound von „Grind“ genannt. Richard teilt mit, er habe beim Komponieren an den Ozean gedacht, an das Salz des Meerwassers, das auch die Luft erfüllt, für Reizklima sorgt, an Ambivalenzen, die sich in „wildromantischer“ Natur und relativer Abgeschiedenheit ergeben. „I-MIR“ heißt der spektakulärste Track, nach der Grünfärbung des Lichts, Sekunden, bevor die Sonne untergeht.

Auf dem Cover von „Grind“ ist das Foto einer Ziehbrücke abgebildet, sie verbindet eine Insel mit dem Festland von Rhode Island. Einst führte auf ihr ein Weg zu einer Waffenfabrik, jetzt ist die Gegend ein Vogelreservat, ein Freiraum der Natur. DJ Richards Musik hat sich für sein Naturfreunde-House im Unterholz eingerichtet. Jedenfalls für den Moment.

Aus der Vogelperspektive

Es ist die kreishafte Beziehung zwischen den Elementen der Natur und dem Streben von Menschen, sich diese untertan zu machen, das Wechselspiel aus einer mächtigen Naturerfahrung und der rücksichtslosen Besiedelung, was auch die Musik auf „The Expanding Flower Planet“, dem neuen, zwischen affirmativen Popsongs und mantraartigen Folkelementen, kühlen Hooklines und spirituellen Botschaften changierenden Werk von Angel Deradoorian, strukturiert. „Die landschaftliche Schönheit Kaliforniens ist überwältigend, aber mit der Lebensart habe ich mich nicht arrangiert“, sagt die aus New York stammende Popkünstlerin zum Spannungsfeld ihrer Existenz.

Anders als DJ Richard bezieht sich die 29-Jährige auf ihrem großartigen Soloalbum nicht auf die Mikroebene der Natur, sondern beobachtet die sie umgebende Welt aus der Vogelperspektive. So entstehen Klanglandschaften mit räumlicher Ausdehnung, Musik, wie sie in dieser Saison noch niemand mit solchem Willen zum Experiment kreiert hat. „Mein Album entspricht eigentlich einem einzigen Song, einem kosmischen Weltbild und seiner Ausdehnung in die Psyche.“

Deradoorian: „The Expandung Flower Planet“ (Anticon/Morr Music/Indigo)

White Poppy: „Natural Phenomena“ (Not Not Fun/Import)

DJ Richard: „Grind“ (Dial/Kompakt/Rough Trade)

Die Songs auf „The Expanding Flower Planet“ werden von Deradoorians ruhiger Croon-Stimme gelenkt. Mit ihrer Gefasstheit scheint sie über den Dingen zu stehen: Den ausufernden Songarrangements, wie man sie von ihrer früheren Band Dirty Projectors kennt, und Texten, die mehr einer Fantasywelt entsprungen sind als der Gegenwart. Deradoorians Paralleluniversum aus Klang steht auf dem Kopf, und aus dieser ungewöhnlichen Perspektive bezieht sie ihre Schaffenskraft.

Trägt die Natur im Haar: Angel Deradoorian Foto: Benett Perez

Wander-Shoegazing
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Wenn die Klimaanlage flattert und der Kühlschrank brummt, sagt Crystal Dorval, dann weiß sie, dass sie nicht allein auf der Welt lebt. Die in Vancouver aufgewachsene junge Frau bewohnt als Einsiedlerin eine Farm auf einer Halbinsel vor der Pazifikküste im Nordwesten Kanadas und züchtet Bienen. Dies helfe ihr als Künstlerin. Die Erlebnisse am Rande der Zivilisation sind titelgebend für ihr neues Album „Natural Phenomena“.

Unter dem Namen White Poppy komponiert Dorval wundervollen Dreampop, ein Wander-Shoegazing mit euphorischem Sound, der jede Form von irdischem Dreck in luftige Loops und Sphärenklänge auflöst. Das geht ans Herz. Für den Videoclip von „Confusion“, dem Auftaktsong, posiert Crystal Dorval allein mit ihrer Flying-V-Gitarre, umgeben von Nadelbäumen und Bergketten. Die Klangschichten von White Poppy führen die Ernsthaftigkeit von Krautrock ad absurdum. Naturwüchsig klingt an White Poppy nichts, doch ist alles weit draußen.

Dass sich gleich drei der musikalisch aufregendsten Popalben dieser Saison aus Nordamerika mit Landschaften, Einsiedlertum und den Ressourcen der Natur befassen, kann kein Zufall sein. Obwohl fast drei viertel der Bevölkerungen von USA und Kanada in städtischen Ballungsräumen leben –, wirken auf dem ganzen Kontinent starke gesellschaftliche Bewusstseinselemente, die an ländliche Traditionen und Utopien anknüpfen. Je weiter entfremdet der Natur, desto stärker fasziniert sie. Durchdekliniert haben das nicht erst die Hippies. Going Native war ein Gründungsmoment in der Kolonisierung Nordamerikas.

Von der Last der Welt befreien

Es war der US-Sozialkritiker Henry David Thoreau (1817–1862), der in einem innigen Verhältnis zur Natur dem Banalen des Alltagslebens entkommen wollte. In der Abgeschiedenheit, dachte Thoreau, könne er sich besser von Ego und Last der Welt befreien. Sein Radikal-Individualismus wurde durch die Vormacht der Städte befeuert, deren Einfluss ihm wie ein Korsett vorkam, von dem er sich autonom machen wollte.

Crystal Dorval spielt Gitarre in freier Wildbahn

Crystal Dorval alias White Poppy in freier Wildbahn Foto: Not Not Fun Records

Es war Thoreaus engster Freund, der Philosoph Ralph Waldo Emerson (1803–1882), der mit dem von Kant abgeleiteten Transzendentalismus die Intuition seiner Mitmenschen im Umgang mit der Natur bestärken wollte. Da Mensch, Moral und Natur nach Ansicht von Emerson im Banne der sogenannten „Oversoul“ stünden, einer Art universellem Geist, könne man durch metaphysische Erfahrungen mit der Natur sich leichter selbst verwirklichen. Dieser den Naturgewalten abgetrotzte Optimismus trägt politische und soziale Züge insofern, als Menschen, gestärkt von der Oversoul, Religion, autoritäre Gesellschaftseinflüsse und übermächtige staatliche Institutionen in Frage stellen.

Aber was geschieht mit dieser radikal-individualistischen künstlerischen Hinwendung zur Natur eigentlich im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit? Was passiert mit Thoreaus Autonomiebestrebungen in Zeiten der totalen Transparenz, die auch die Unterschiede zwischen Stadt und Land verwischt? Zurück zur Natur kann keine befriedigende Antwort sein, aber die Sehnsucht nach Abgeschiedenheit oder die Projektion von Natur und Distanz, und sei es durch je unterschiedliche famose klangliche Ausgestaltungen bei DJ Richard, Angel Deradoorian und White Poppy, erschaffen wenigstens temporäre autonome Zonen.

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