Pop komm raus...: Die Industrie jagt Mr. X
■ Was Sie schon immer über CDs wissen wollten: Wer kauft sie eigentlich? Eine „Nichtkäuferstudie“ soll aufklären
A priori, a priori! Schon bevor heute die ersten BesucherInnen sich auf den Boulevard Bio der Popkomm begeben, um zu kommunizieren und allerhand socialising zu betreiben, steht eines fest: Wenn 1995 für die Tonträgerindustrie The Year of the Katzenjammer war, ist 1996 The Year of the Schiß. Latent, aber massiv. „Man muß sich ja eher wundern“, so Ralf Plaschke, einer der beiden Popkomm-Chefs, „daß die allgemeine Rezession erst jetzt so weit durchgeschlagen ist“. Zwar weiß inzwischen deine eigene Großmutter, wer Kurt Cobain war, und Jeans wie Autos wie Frühstücks-Smackies werben gleichermaßen mit Popklassikern; 95 Prozent aller Deutschen behaupten, Freunde der guten Musik zu sein und geben jährlich mehr als fünf Milliarden für bespielte Tonträger aus, rund fünfmal soviel wie die 1,05 Milliarden für zwei Stunden Kinospaß (Handelsblatt vom 12./13.7.). Und doch droht für 1996 das berüchtigte, gefürchtete Nullwachstum.
Um rauszukriegen, woran das liegen könnte, haben die großen Fünf der Branche (Sony, EMI, Polygram, Warner Brothers, BMG) konzertiert eine sogenannte Nichtkäuferstudie in Auftrag gegeben. Dieses Druckwerk, das vom privaten Institut für Psychologie und Sozialforschung in Kiel und der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung erstellt wurde und erst am Samstag im Popkomm-Rahmen offiziell geboren wird, umgibt ein großes Geheimnis, einige Eckdaten dürften allerdings feststehen.
So kaufen 13 Millionen Deutsche zwar eifrig Platten, zwölfeinhalb Millionen immerhin gelegentlich, aber 26 Millionen haben, obwohl die Hardware zu Hause steht, an bespielten Tonträgern überhaupt kein Interesse – und sind damit als Kunden praktisch unerreichbar.
Offenbar funktioniert der Musikmarkt nach gänzlich anderen Gesetzen als das Hollywood- Kino, wo schon in den ersten Wochen nach dem Anlaufen eines Megasellers über Erfolg und Mißerfolg entschieden ist. Die Laufzeit ist länger und weniger direkt abtastbar. Auch das Starsystem ist im Pop nur noch der Überbau, der immer weiter an Bedeutung verliert gegenüber der Vielzahl von Wiederveröffentlichungen aus den Archiven: Compilations, Pop-Stasiakten, Ausgaben letzter Hand und, am anderen Ende des Outputs, Ramschware.
Individualkonsumistisch gesehen heißt das, daß „der Käufer“, ähnlich wie „der Leser“ (etwa von Tageszeitungen) gar nicht unbedingt jener jugendliche, dynamische und trendsettende Typus ist, der das Image von Popmusik bestimmt, sondern ein Phantom. Gut möglich, wahrscheinlich sogar, daß MisterX bereits jenseits der Dreißig liegt und die Hitparaden nur noch sporadisch verfolgt. Er überspielt sich die Musik von Freunden (Hometaping is killing music!), ist gleichsam Schwarz-Consumer in der allgemeinen Camorra des Handels und Wandels (siehe auch taz-Rettungskampagne), kauft idiosynkratisch, bestellt bei Mail-order-Diensten und anderen Kleinklitschen oder bedient seine undurchsichtig strukturierten Vorlieben auf einem jener Special-Interest- Märkte, in die die Popmusik, seit sie das Stadium ihrer grenzenlosen Reproduzierbarkeit erreicht hat, diffundiert ist.
Hinzu kommt, daß, demographisch gesehen, immer weniger jung sind und das Geld für die neue Dance-CD und den Konzertbesuch und die angesagten Drogen und den neuen Turnschuh nicht mehr reicht. Ein Horrorszenarium, fürwahr, zugleich auch ein latenter Bruch des Generationenvertrags. Wer sorgt noch ernsthaft für unsere Ren(di)ten?
Als vorläufigen Hauptschuldigen hat „die Industrie“ qua Nichtkäuferstudie „den Handel“ ausgemacht: In den unübersichtlichen, hitparadös ausgerichteten Kauflandschaften der großen Ketten fühlt sich „der Käufer“ längst nicht mehr da abgeholt, wo er gerade steht: Alles so bunt hier, aber wo, bitte, geht's zur Musik? Das versteht der Käufer nicht! Die Folge ist Einsamkeit, und das ist schlimm. Oft ahnt das gerade erst glücklich in die Lehrstelle vorgerückte, nach Fernsehserien-, MTV- und anderen Role-Model-Gesichtspunkten ausgesuchte Verkaufspersonal auch gar nicht, welch geheime Connaisseure der Pophistorie es vor sich hat und ist folglich außerstande, schlummernde Kaufwünsche zu bedienen oder zu wecken.
Der Musik- und Wirtschaftsjournalist Franz Schöler will herausgefunden haben, daß auch die kassiberartig gehandelte Nichtkäuferstudie keine essentiellen Aufschlüsse über die kulturelle Abstinenz der schweigenden Mehrheit enthält – was wiederum von seiten des Instituts für Psychologie und Sozialforschung als haltloses Gerede eines uninformierten Nestbeschmutzers abgetan wird. Indes, und da beißt die Maus keinen Faden ab, im Zeitalter der „Diversifizierung“ ist Erfolg immer weniger planbar. Die Billboards der Gegenwart bergen einen gehörigen Kern Zufall, und das degradiert die schönste Marktanalyse zu einem Stück Chaosforschung. Die Jürgen Schneiders sind unter uns. Fantômas Groß
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