Polnisches Literaturfestival in Berlin: „Berlin ist Polens Kulturstadt“
Das Festival „Unrast“ bringt die besten Reporterinnen und Reporter aus Polen nach Berlin. Ein Gespräch mit der Kuratorin Dorota Danielewicz.
taz: Frau Danielewicz, Unrast ist der Titel eines Romans, für den die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk 2019 den Literaturnobelpreis bekommen hat. Unrast heißt auch das Festival der polnischen Literatur, das am Freitag in Berlin beginnt und das Sie kuratiert haben. Warum dieser Titel?
Dorota Danielewicz: Wir leben in sehr unruhigen und bewegten Zeiten, in einer Zeit der Unrast also. Das ist der eine Grund. Zum andern heißt der Titel des Romans von Olga Tokarczuk auf Polnisch „Bieguni“. Die Bieguni waren eine christliche ukrainische Sekte im 18. Jahrhundert, bei der die Menschen immer in Bewegung sein mussten, um Gott und der Wahrheit näher zu kommen. Vielleicht ist ein Reporter heute ja auch so eine Art Biegun.
Ab Sonntag: Umrahmt von zwei Veranstaltungen mit explizit Berliner Thematik im Club der polnischen Versager findet das Festival „Unrast“ selbst von Sonntag bis Donnerstag im Maschinenhaus der Kulturbrauerei statt. Eröffnet wird es am Sonntag mit einer Podiumsdiskussion „Quo vadis, Europa“. Anschließend liest Andrzej Stasiuk aus „Der Osten“.
Weitere Themen sind „Reisen als Lebensart“, „Das Risiko der Herkunft“ oder „Das Risiko der Flucht“. Neben vielen polnischen Autorinnen und Autoren, die in Berlin leben, kommen unter anderen Ziemowit Szczerek, Stefan Chwin, Małgorzata Rejmer oder Włodzimierz Nowak nach Berlin. Alle Veranstaltungen und Infos unter unrast-berlin.de. (wera)
Einer, der läuft also, was ja auch im Wortstamm steckt, ein Rasender Reporter also.
Genau. Und natürlich will der Reporter auch Zeugnis ablegen vom wahren Geschehen.
Reporterinnen und Reporter stehen auch im Mittelpunkt des Festivals …
… bei dem es um Non-Fiction geht, aber mit dem Schwerpunkt auf Reportage.
Die polnische literarische Reportage hat eine lange Tradition, ist aber in Deutschland weitgehend unbekannt. Was macht diese Reportagen so besonders?
Die Reportagen von Ryszard Kapuściński oder Hanna Krall, aber auch von Małgorzata Szejnert, die Mitbegründerin der Tageszeitung Gazeta Wyborcza, die Generationen von jungen Reporterinnen und Reportern ausgebildet hat, zeichnen sich vor allem durch Aktualität aus.
Sind sie also eher Journalismus als Literatur?
Sie sind beides. Vor allem in der Zeit des Kommunismus, in der man nicht über alles offen schreiben durfte, hat sich eine sogenannte „Schule des kleinen Realismus“ herausgebildet. Die Reporter beschrieben akribisch genau das, was sie sahen, sie ließen die Fakten für sich sprechen.
Das ist für mich auch heute noch der Unterschied zu Reportagen, die in Deutschland veröffentlicht werden. Dort ist die Stimme des Autors viel präsenter als in den polnischen Reportagen. Dort zoomen die Autoren ganz nah ran an ihre Protagonisten, und die Leserinnen und Leser können sich ihre eigene Meinung bilden.
Entscheidend für die Autoren in Polen ist nicht so sehr die eigene Haltung und Meinung zu dem Thema, über die sie schreiben, sondern ein eigener Stil. Genau das ist dann der fließende Übergang zur Literatur.
Welchen Stellenwert hat die literarische Reportage innerhalb der polnischen Literatur? Viele Reporter und Reporterinnen wurden ja auch mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet.
Das ist ein sehr anerkannter Teil der Literatur. Es gibt viele Verlage wie Czarne von Monika Sznajderman und Andrzej Stasiuk, die sich auf literarische Reportagen spezialisiert haben. Andere renommierte Verlage haben in ihren Programmen Reihen mit Reportagen. Die werden von einem breiten Publikum gelesen und diskutiert. In der polnischen Literatur gibt es gerade zwei Bewegungen: eine Hinwendung zum Faktischen und eine Hinwendung in Fantasiewelten.
Unrast findet zu einer Zeit statt, in der an der belarussisch-polnischen Grenze Alexander Lukaschenko mit einem zynischen Spiel versucht, die EU zu spalten. Auch in Polen ist das ein kontroverses Thema. Wie reagieren Sie als Kuratorin darauf?
Wir zeigen Fotos aus europäischen Flüchtlingslagern, die von Karol Grygoruk stammen. Er ist schon seit drei Jahren unterwegs und dokumentiert das Geschehen in Griechenland, Frankreich, auf Teneriffa. Aber er war auch im Wald an der belarussischen Grenze. Grygoruk kommt auch zur Eröffnung des Festivals. Auch zwischen den Lesungen zeigen wir seine Fotos, die auch auf unserer Website zu sehen sind. Darüber hinaus thematisieren wir das Thema Flucht auf den Veranstaltungen selbst. Zum Beispiel hat Michał Książek ein Buch über die „Straße 816“ geschrieben, die an der belarussischen Grenze entlangführt. Er kommt selbst aus der Grenzregion. Das Buch ist auch auf Deutsch erschienen.
Ein fast magischer Ort für polnische Reporterinnen und Reporter ist Berlin. In den vergangenen Jahrzehnten sind zahlreiche Bücher entstanden, die von Berlin handeln. Auf der anderen Seite polarisiert die Stadt in Polen stark. Warum?
Da spielt auch das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Nationen eine Rolle. Von manchen Autorinnen wie Ewa Wanat in ihrem Berlin-Buch „Deutsche nasz“ wird das angepriesen. In Polen selbst aber gibt es in regierungsnahen Medien eine merkwürdige Propaganda. Da heißt es immer wieder, dass die Stadt dreckig und gefährlich ist, dass man abends nicht mehr rausgehen kann. Aber es gibt auch nicht regierungsnahe Autorinnen wie Anda Rottenberg, die von der „Berliner Depression“ schreibt. Diese war jedoch eher persönlicher Art und hatte etwas mit ihrer Familiengeschichte zu tun.
Ist Berlin der beste Ort für ein Festival polnischer Autorinnen und Autoren?
Ich denke ja. Es gibt sehr viele polnischstämmige Autoren, die in Berlin leben. Brygida Helbig, Krzysztof Niewrzęda, Karolina Kuszyk, Ewa Wanat, Jacek Dehnel und andere, auch ich. Es gibt viele Übersetzer, all diese Menschen setzen die Tradition von Witold Gombrowicz fort, der in den 60er Jahren auf Einladung der Ford-Foundation in Westberlin war. Infolgedessen waren auch Autorinnen wie Hanna Krall und Olga Tokarczuk zu Gast in Berlin gewesen und natürlich auch Ryszard Kapuściński, nach dem seit elf Jahren ein Internationaler Reportagepreis in Polen benannt ist.
Woher kommt diese Faszination?
Berlin ist die heimliche Kulturhauptstadt Polens.
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