Polizei vergaß Notarzt Geisel verblutete

Hätte in Bremen der 15jährige Italiener überleben können? / Mutter der getöteten Geisel Silke Bischoff: „Wildwest„-Strategie der Polizei / Behörden schweigen  ■  Aus Bremen Klaus Schlösser

Der 15jährige Emanuele de Giorgi könnte möglicherweise noch leben, wenn die Bremer Einsatzleitung der Polizei rechtzeitig einen Notarzt-Wagen eingesetzt hätte. Der Junge war in der Nacht zum Donnerstag um 23.09 Uhr durch einen Schuß des Geiselnehmers Dieter Degowski in den Kopf geschossen worden. Ein Rettungswagen fand sich jedoch nicht in dem Troß der Polizei-und Journalistenfahrzeuge, die dem Bremer Bus mit 30 Geiseln an Bord am Mittwoch bis zur Raststätte Grundbergsee gefolgt waren - angeblich weil der Einsatzleitung kein Rettungsfahrzeug zur Verfügung stand.

Inzwischen mehren sich die Zweifel an dieser Darstellung des Bremer Kripo-Chefs Peter Möller. Nach Informationen der Bremerhavener Nordsee-Zeitung gab es seit Mittwochabend, 22.40 Uhr ein Angebot der „Rettungsleitstelle“ Zeven an die Kripo, einen Rettungswagen zur Verfügung zu stellen. Dieser wäre losgeschickt worden, wenn es die Einsatzleitung in Bremen gefordert hätte.

Als der Wagen um 23.14 Uhr - fünf Minuten nach dem Schuß von dort offiziell angefordert wurde, war er bereits unterwegs: In der Zevener Rettungsleitstelle hatte man Polizeifunk gehört und unmittelbar nach der Meldung des Schusses den Einsatz ohne weitere Kontakte mit der Bremer Einsatzleitung angeordnet. Bei seiner Ankunft in der Ambulanz des Bremer St.Jürgen-Krankenhauses konnte dort nur noch der Tod von Emanuele de Giorgi festgestellt werden. Schon wegen des bis dahin eingetretenen Blutverlustes hatte er keine Überlebenschance, erklärten Mitarbeiter des Krankenhauses der taz.

Ob die Schußverletzung am Kopf alleine schon tödlich gewesen wäre, muß der Obduktionsbericht klären, über den in Bremen noch Stillschweigen gewahrt wird.

Mit möglichen Versäumnissen bei der Koordination der Rettungsfahrzeuge beschäftigt sich inzwischen auch die Kripo selbst. Ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes Zeven bestätigte gegenüber der taz, daß die Rettungs-Leitstelle am Freitag von Kripo-Mitarbeitern durchsucht worden sei. Eine Viertelstunde nach dem tödlichen Schuß, das geht aus dem der taz vorliegenden Tonband-Protokoll des polizeilichen Funkverkehrs hervor, gab die Einsatzleitung Anweisung, daß ein Notarzt-Wagen den inzwischen Richtung Holland fahrenden Bus begleiten sollte.

Offizielle Stellen verweigern inzwischen jede Auskunft zu den Ungereimtheiten während des Polizeieinsatzes. Sowohl der Bremer Innensenator Bernd Meyer als auch die Kriminalpolizei berufen sich dabei auf eine Bitte der Generalstaatsanwaltschaft, die gegen die Geiselnehmer ein Ermittlungsverfahren wegen Mordverdachts eingeleitet hat.

Unkommentiert blieben deshalb gestern auch schwere Vorwürfe von Bremer Angehörigen der 18jährigen Silke Bischoff, die bei der blutigen Beendigung des Geiseldramas am Donnerstag Fortsetzung auf Seite 2

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ums Leben gekommen war, gegen Polizei und politisch Verantwortliche. Auf einer Pressekonferenz in Bremen kündigten die Angehörigen am Samstag Strafanzeigen gegen die Polizeieinsatzleitungen in Bremen und Nordrhein-Westfalen wegen „bedingt vorsätzlich begangenen Totschlags“ bzw. „fahrlässiger Tötung“ an. Der Hamburger Rechtsanwalt Gerold Bischoff, ein Angehöriger der durch einen Herzschuß getöteten Geisel, begründete die Anzeigen mit dem „völlig amateurhaften und dilettantischen Vorgehen der Polizei“, das die „Grenzen rechtsstaatlichen Handelns weit überschritten“ habe. Die Mutter von Silke Bischoff am vergangenen Samstag gegenüber der taz: „Ich bin sicher, meine Tochter könnte noch leben, wenn die Polizei ihren Tod nicht bewußt in Kauf genommen hätte. Die Polizei hat auf ganzer Linie versagt.“ Auch Vorwürfe der

überlebenden Geisel

Berlin (taz) - „Wir waren beruhigt. Wir haben Dosenbier getrunken...Wir haben noch darauf angestoßen, daß alles gut wird“, so schilderte die überlebende Geisel Ines Voitle inzwischen die Stimmung Minuten bevor das SEK-Kommando auf der Autobahn bei Siegburg das Geiseldrama am Donnerstag beendet hatte. In einem Interview mit dem 'Spiegel‘ erhob auch sie Vorwürfe gegen die Polizei: „Die haben auf uns Geiseln überhaupt keine Rücksicht genommen.“ Ihre Erinnerung an die Polizeiaktion: „Auf einmal hörte ich Gebrüll, so eine Art Indianergeschrei, Schüsse, und dann fuhr uns ein Wagen von der Seite hinten rein, während wir mit hoher Geschwindigkeit fuhren. Dann ging eine große Schießerei los. Silke und ich sind nach vorne geflogen und haben uns geduckt. Und die zwei Herren haben aus unserem Wagen geschossen, auf die da drüben.“ Frage: „Nicht auf Sie beide?“ Antwort: „Die haben uns nichts getan. Plötzlich ist der neben mir zusammengesackt, wurde anscheinend getroffen. Glassplitter flogen herum, dann wurde ich getroffen... Rösner versuchte noch einmal, anzufahren. Das ging nicht mehr. Die Freundin hat zu Rösner gesagt, er sollte Silke mit dem Kopf nach vorne ziehen und ihr die Pistole an den Kopf halten. Da hat Silke zu mir geschrien: Spring raus, geh raus, geh raus!... Ich habe es versucht, aber Rösners Freundin schrie: Du bleibst hier drin. Silke hat noch lauter geschrien, noch ängstlicher: Spring raus... Ich hab die Tür aufgemacht und bin raus. Ich bin gerannt wie eine Bekloppte...“

Das Düsseldorfer Innenministerium hat am Sonntag Einzelheiten dieser Darstellung von Ines Voitle widersprochen. „Der Fluchtwagen der Täter ist zum Zeitpunkt des Zugriffs der Beamten nicht mit 100 Kilometern in der Stunde gefahren, sondern rollte langsam vom Seitenstreifen in Richtung Fahrbahn“, sagte der Sprecher des nordrhein -westfälischen Innenministers, Reinhardt Schmidt-Küntzel. Gestützt wird dieser Widerspruch auch durch Äußerungen des Fotografen und Augenzeugen Holger Arndt. Der Darstellung, wonach die Atmosphäre „ganz gut“ gewesen sei, hielt das Düsseldorfer Innenministerium die Einschätzung entgegen, daß spätestens seit dem Tod des 15jährigen Italieners Emanuele de Giorgio sich keine der Geiseln auch nur zu wenigen Prozentpunkten habe sicher fühlen können. Im Streit um die politischen Konsequenzen aus dem Geiseldrama hat der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Bundestag, Gerster, von NRW-Innenminister Schnoor einen Bericht über den Polizeieinsatz „binnen vier Tagen“ verlangt.

Außerdem beschuldigte Gerster den Minister, seiner Polizei nicht die nötige politische Rückendeckung für den Todesschuß gegeben zu haben. Zwar sei in den Gesetzen Nordrhein -Westfalens der „finale Rettungsschuß“, so der CDU-Mann wörtlich, „nicht vorgesehen“, da Schnoor ihn aber für verantwortbar hielte, hätte er seiner Polizei rechtzeitig die notwendige Rückendeckung geben müssen.