Politikferne Stadtteile: Privilegierte wählen lieber
Die Wahlbeteiligung in ärmeren Bezirken ist bei der Bürgerschaftswahl überproportional gesunken. Das könnte am neuen Wahlrecht liegen.
Das neue Hamburger Wahlrecht hat der Wahlabstinenz in bildungsfernen Schichten nicht entgegengewirkt. Im Gegenteil, die Wahlbeteiligung ist dort stärker zurückgegangen als bei anderen Bevölkerungsschichten. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Universität Hamburg.
Die Studie, die heute vor dem Verfassungsausschuss der Bürgerschaft vorgestellt wird, untersucht das Wahlverhalten sowie den Zusammenhang zwischen Wahlbeteiligung und sozialer Zusammensetzung in Hamburger Stadtteilen. Die Autoren um den Hamburger Politologen Cord Jakobeit teilten die 100 Stadtteile nach Kriterien wie dem Anteil an Hartz-IV-Empfängern oder dem Durchschnittseinkommen in vier Gruppen ein. Während die Wahlbeteiligung in der sozial stärksten Gruppe jeweils bei etwa 75 Prozent lag, erreichte sie in der schwächsten Gruppe rund 25 Prozentpunkte weniger.
Ein direkter Zusammenhang mit dem bei der Bürgerschaftswahl 2008 eingeführten neuen Wahlrecht, das die Verteilung von bis zu fünf Stimmen auf individuelle Kandidaten erlaubt, lasse sich nicht eindeutig feststellen, sagte ein an der Studie beteiligter Wissenschaftler. Ein Jahr nach der Wahl hätten keine Befragungen nach den Gründen für die Wahlabstinenz mehr durchgeführt werden können.
Allerdings sank die ohnehin niedrige Wahlbeteiligung in der sozial schwächsten Gruppe um sieben Prozentpunkte, deutlich stärker als in den privilegierten Gebieten, wo sie nur um drei Prozentpunkte abnahm. Umfragen der "Forschungsgruppe Wahlen" aus der Zeit vor der Wahl, die in der Studie zitiert werden, kommen zu dem Schluss, dass fast die Hälfte der Wahlberechtigten das neue Wahlrecht als "zu kompliziert" empfindet.
Der Vorsitzende des Verfassungsausschusses der Bürgerschaft, Kai Voet van Vormizeele (CDU), sieht seine Zweifel am neuen Wahlrecht bestätigt: "Der Kompromiss zwischen den Initiatoren des Volksentscheids und der Bürgerschaft läuft auf ein Zwei-Klassen-Wahlrecht hinaus." Bei den großen Hamburger Wahlkreisen sei es ohnehin fast unmöglich, die Kandidaten persönlich kennen zu lernen. Das Bundestagswahlrecht sei für Hamburg geeigneter.
Im Juni 2004 hatte das Volksbegehren für ein neues Wahlrecht eine Zweidrittelmehrheit erzielt. Daraufhin wurde das Listenwahlrecht durch ein personalisiertes Wahlrecht ersetzt, das "panaschieren" und "kumulieren" zulässt - bei der Bürgerschaftswahl 2008 konnten bis zu fünf Stimmen auf Kandidaten verschiedener Listen verteilt oder auf einzelne Kandidaten gehäuft werden. Ein solches Wahlrecht ist in vielen Bundesländern bei Kommunalwahlen üblich.
Laut der Studie nutzte nur die Hälfte der Wähler die individuellen Wahlmöglichkeiten. Vom neuen System profitierten besonders die Kandidatinnen: Frauen konnten ihre Listenplätze geringfügig verbessern.
2012 wird es noch mehr Möglichkeiten geben: Dann haben die Wähler nicht nur für die Wahlkreislisten, sondern auch für die Landeslisten fünf Einzelstimmen.
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