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PolitikMüll und Männer

Anschläge wie in Magdeburg oder Mannheim rücken den Fokus auf ein Thema: Sicherheit. In Stuttgart fühlen sich die meisten nicht nur sicher, sie sind es auch, wie eine Studie zeigt. Unsicherheit lösen vor allem Müll und Männer aus. Der OB sucht dennoch nach der Nadel im Heuhaufen.

Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (in orange) lässt sich beim Müllsammeln von Medien begleiten. Foto: Julian Rettig

Von Korbinian Strohhuber↓

Kurz vor sieben Uhr am vergangenen Samstag. Eine kleine Menschenmenge steht vor dem Polizeiposten in der Arnulf-Klett-Passage: Journalist:innen, eine Handvoll Angestellte der Abfallwirtschaft Stuttgart (AWS) und ein gutes Dutzend Freiwilliger. Letztere tragen schwarze Pullis mit orangefarbenen Aufdruck, der den Anlass des Zusammenkommens verkündet: „Let‘s Putz“. Seit 1996 gibt es die gemeinsame Müllsammelaktion des Fördervereins „Sicheres und Sauberes Stuttgart“ mit der AWS. Dieser Samstagmorgen war der diesjährige Auftakttermin. Mit dabei: Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU). In oranger Montur der AWS schreitet er durch die Klett-Passage zum Treffpunkt, im Schlepptau einen Pressereferenten für den Social-Media-Auftritt, zur Begrüßung schüttelt er viele Hände. Nach dem Vereinsvorsitzenden spricht er ein paar Begrüßungsworte, oder genauer: Er liest sie von Karten ab. Im Sinne der schwäbischen Kehrwoche müsse man streng genommen jeden Samstag hier sein, meint Nopper. „Ja genau ey!“, ruft ein betrunkener junger Mann, der Schaulustige hatte sich zur Menschenmenge dazugesellt, die versammelte Runde lacht. „Leider ist aus der Klett-Passage ein Unort geworden, der in vielen Teilen als unsauber und unsicher wahrgenommen wird“, stellt der Oberbürgermeister fest. Aber er verspricht, die Klett-Passage werde „eine Renaissance“ erfahren nach der Eröffnung des neuen Bahnhofs, „oder noch besser: eine noch nie da gewesene Perspektive haben“.

Ein großes Versprechen, zumal die 1976 eröffnete Klett-Passage durchaus schon bessere Tage gesehen hatte. Daran erinnerte auch Stadtrat Matthias Oechsner (FDP) drei Tage zuvor im Verwaltungsausschuss: „Das war eine Topadresse.“ Jetzt sei die Klett-Passage eine „Müllabladestelle“. Und herumliegender Müll trägt zur Kriminalitätsfurcht bei, wie die Stuttgarter Sicherheitsbefragung ergab, die im Ausschuss vorgestellt und besprochen wurde. 39 Prozent der Befragten gaben Schmutz und Müll in ihrem Stadtbezirk als „Incivilities“ an, das heißt als „subjektive Störungen der sozialen und normativen Ordnung“. Nur falsch abgestellte E-Scooter (50 Prozent) und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich (40 Prozent) wurden häufiger genannt. Grund genug also für Leonard Rzymann (CDU), die schmuddelige Klett-Passage im Ausschuss anzusprechen. Schon länger gilt sie der CDU-Gemeinderatsfraktion als „No-go-Area“. Medienberichte stützen das negative Bild: Frauen anpöbelnde Männergruppen, Drogengeschäfte, Messerangriffe. Eine Polizistin bezeichnete vor rund einem Jahr „die Kletti“ gegenüber dem Stuttgarter Pressehaus als „Dauerbrennpunkt“.

Doch es gibt eine gute Nachricht: Stuttgart ist sicher, und eine überwiegende Mehrheit empfindet das auch so. Zu diesem Ergebnis kommen die Autoren der Sicherheitsstudie, Dieter Hermann, Professor am Institut für Kriminologie der Uni Heidelberg, und Egon Wachter vom Institut für Kriminologische Forschung Baden-Württemberg (KriFoBW). Nur 14 Prozent der rund 10.000 Stuttgarter Befragten gaben an, sich ziemlich oder sehr unsicher zu fühlen.

Die Opfer: junge Frauen

Ein differenziertes Bild zeigt sich mit Blick auf Alter und Geschlecht. Junge Frauen fürchten sich deutlich mehr vor Kriminalität als Männer aller Altersklassen, ein Migrationshintergrund spielt dabei kaum eine Rolle. Das tatsächliche Risiko, Opfer von Kriminalität zu werden, ist für Frauen mit Migrationshintergrund im Alter von 21 bis 30 am größten, insgesamt ist das Risiko für junge Frauen und Männer größer als für ältere Menschen.

Im Oktober ist die Studie veröffentlicht worden, besprochen wurde sie nun im Ausschuss. Sie dient nun allen Gemeinderatsfraktionen als gemeinsame Basis, und die kommen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Oberbürgermeister Nopper betet zu Beginn im Ausschuss herunter, was er schon im September forderte – die von der Kommune umzusetzenden Maßnahmen seines Elf-Punkte-Plans: mehr Polizei, mehr Videoüberwachung, größere Waffenverbotszone, Waffenverbot für Intensivtäter:innen und eine Aufklärungskampagne in Flüchtlingsunterkünften über das Tragen von Waffen in der Öffentlichkeit.

Die ökosozialen Parteien dagegen wollen einen anderen Schwerpunkt setzten. Die Puls-Fraktion fordert eine weitere Untersuchung, um personenbezogene und ortsbezogene Gewaltursachen zu beleuchten, da die Gefahr bestehe, „dass durch vorschnelles Handeln dauerhaft Geld in Maßnahmen gesteckt wird, die keine Wirksamkeit erzielen“. Die SPD fordert „Prävention vor Reaktion“ und formuliert dazu zwölf Vorschläge, unter anderem städtebauliche Maßnahmen wie beleuchtete Wege oder Imagekampagnen zum Abbau von Vorurteilen. Stadträtin Johanna Tiarks (Die Linke) spricht ein anderes „dominantes Problem“ an: den Straßenverkehr in Kombination mit Alkohol und hoher Geschwindigkeit. Nicht Messer, sondern Autos seien ein Problem, interpretiert sie die Studie. Und da bei Anschlägen in jüngster Zeit Autos als Waffe genutzt wurden – warum werde keine Ausweitung von Autoverbotszonen gefordert? Als „lächerlich“ bezeichnet das CDU-Mann Ryzmann. „Was soll noch kommen, ein Verbot von Schuhen, weil ein beschuhter Fuß als Waffe genutzt werden kann?“, fragt er aufgebracht in Richtung Tiarks. Während der vorwiegende Zweck von Autos die Fortbewegung sei, würden Messer in erster Linie zum Verletzen genutzt. In den Gesichtern der ökosozialen Stadträt:innen spiegelt sich Entgeisterung und Verwirrung.

Die Täter: junge Männer

Häufiger als Frauen verüben Männer Straftaten, zudem begehen sie auch eher schwere Delikte als Frauen. Dass junge Männer krimineller als andere Bevölkerungsgruppen sind, „das war vor 100 Jahren schon so“, sagt der Kriminologe Hermann im Gespräch mit Kontext. Er und Wachter finden in ihrer Sicherheitsstudie einen Zusammenhang von Wertevorstellungen und Kriminalität – und die unterscheiden sich zwischen den Geschlechtern. Was idealistische Werte – also Universalismus, Wohlwollen aber auch Gerechtigkeit oder das Eintreten für Umweltschutz – betreffe, „da erreicht der Durchschnittsmann nie das Niveau der Durchschnittsfrau. Da liegen die ihr Leben lang auf ganz unterschiedlichem Niveau“, sagt Hermann. Dabei sind Menschen, die solche idealistischen Werte vertreten, weniger gewaltbereit als jene, die eher hedonistische und materialistische Wertvorstellungen priorisieren.

Männliche Jugendliche, insbesondere am oberen Schlossgarten, haben einen großen Effekt auf die Kriminalitätsfurcht, ergab die Stuttgarter Sicherheitsstudie. Gewalt ist ein männliches Phänomen, sagt deshalb der Sozialdemokrat Dejan Perc im Ausschuss – und zwar „egal welchen Background“ die Täter hätten. Seiner Ansicht nach solle kein Fokus auf Flüchtlingsunterkünfte gelegt werden, wie es Nopper plant, sondern überall dort angesetzt werden, wo Männer anzutreffen sind, beispielsweise in Sportvereinen. „Frauen und Männer haben Angst vor Männern“, konstatiert auch Tiarks. Für Noppers Fokus auf Flüchtlingsunterkünfte liefere die Studie keine Basis. Ines Schumann (Puls) wirft dem Oberbürgermeister vor, „die Nadel im Heuhaufen“ zu suchen und damit Kriminalitätsfurcht überhaupt erst zu schüren. Nopper will dagegenhalten: Wenn es um Rohheitsdelikte wie Körperverletzungen oder Raub gehe, seien die meisten Tatverdächtigen nicht deutsch. Außerdem hätten die meisten ihren Wohnsitz nicht in Stuttgart, daher spreche er von einer sogenannten „Sog- und Magnetwirkung“ der Landeshauptstadt. Das sei eine Scheinkorrelation, meldet sich Schumann erneut zu Wort. „Aber eine Korrelation ist keine Kausalität!“ Nopper blickt verwirrt, wirft aber schnell ein: „Es ist eine Feststellung.“ Schumann schüttelt den Kopf, blickt zu Boden.

Zwar wären Personen mit Migrationshintergrund im Strafvollzug überrepräsentiert, dennoch seien Menschen mit Migrationshintergrund nicht per se krimineller als andere, sagt der Kriminologe Hermann. Hinzukomme, dass laut Schätzungen jeder zweite Mensch mit Fluchtgeschichte unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, die in der Regel zu aggressivem Verhalten führen. Es wäre eigentlich erforderlich, diese zu behandeln, aber „solche Kapazitäten hat kein einziges Land“. Ein Staat könne nur abwägen, ob er diese Menschen aufnehme, um sie vor Gefahren zu schützen, und damit ein Risiko in Kauf nehme. Oder er nimmt nur wenige auf und wendet Geld für die Behandlungen auf. „Das kann eine Kommune natürlich nicht alleine steuernd regeln, da sind andere Entscheidungsebenen natürlich auch relevant“, ergänzt Wachter.

Müllsammler für die Kamera

Wo eine Kommune aber durchaus alleine steuern könnte, wäre im öffentlichen Dienst: Stadtreinigung und städtischer Vollzugsdienst. Bei letzterem beklagen die Fraktionen im Ausschuss offene Stellen, der SPD-Stadtrat Perc nannte sie eine „Bankrotterklärung“. Dem Oberbürgermeister ist das Problem bekannt: „Ich bearbeite unseren Ordnungsbürgermeister alle zwei Wochen immer wieder mit dem Thema städtischer Vollzugsdienst.“ Und Clemens Maier (CDU) bekräftigt: Auf der Prioritätenliste stehe dieser ganz oben.

Vielleicht würden höhere Löhne helfen, die Stellen zu besetzen. Auch Angestellte des städtischen Abfallwirtschaftsbetriebs legten von Mittwoch bis Freitag vergangene Woche ihre Arbeit nieder, fordern mehr Lohn. So blieb auch in der Klett-Passage und auf der Königstraße der Müll mehrere Tage liegen – Müll, den die Freiwilligen der „Let‘s Putz“-Aktion mit Ordnungsbürgermeister Maier und Oberbürgermeister Nopper wegräumen. Während die anderen mit dem Müllsammeln begannen, gab Nopper noch Interviews für die Presse. Mehrmals hält er inne für einen Plausch mit Journalist:innen. In der ersten Hälfte der Aktion fällt er deshalb weit hinter den anderen zurück, der meiste Müll ist schon aufgesammelt. Ein Kameramann weist sogar die anderen Sammler:innen an, etwas Müll für den Oberbürgermeister liegen zu lassen, damit er ihn beim Aufsammeln filmen kann. „Der sieht gar nicht, was wir hier schon weggeschafft haben“, meint eine Helferin als sie nach hinten in Noppers Richtung blickt. Verhältnismäßig leer bleibt Noppers blauer Müllbeutel bis zuletzt. Das bemerkt auch die Bezirksvorsteherin von Stuttgart-Mitte, Veronika Kienzle (Grüne), die selbst fleißig mithalf. Als sie den Oberbürgermeister am Schlossplatz darauf anspricht, betont er, dass er dafür „viele kleine Dinge“ gesammelt habe und lacht.

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