Polens jüdisches Erbe: Reale Gräber, virtuelle Schtetl
Polen tut sich schwer mit seinem jüdischen Erbe. Erst jetzt entdeckt man die deutsch-jüdische Vergangenheit Schlesiens.
Gab es in Breslau, Kattowitz oder Oppeln jüdische Schtetl? Trugen Juden in Schlesien, Pommern und Ostpreußen breitkrempige Hüte und schwarze Kaftane? Polnische Schüler haben vermutlich genau dieses Bild im Kopf. Ein folkloristisches Bild. Denn nicht nur in polnischen Medien, auch in Schulbüchern werden Juden als höchst exotische Wesen dargestellt: mit langen Bärten und Schläfenlocken, breitkrempigen Hüten und schwarzen Kaftanen. Dass die Stadt Breslau, heute Wroclaw, vor dem Zweiten Weltkrieg eine Hochburg des deutschen Reformjudentums war, Lublin hingegen das geistige Zentrum des ostpolnischen Chassidismus, wird in Polen nur selten thematisiert. Während sich die einen als Teil der deutschen Nation verstanden und sich rein äußerlich in nichts von Protestanten oder Katholiken unterschieden, betonten die anderen geradezu ihr Anderssein als Juden und setzten sich bewusst ab von den katholischen Polen.
Wie sehr die aus dem Kommunismus stammende Politik der Gleichmacherei bis heute das Denken prägt, zeigt das neue Museum für die Geschichte der Juden Polens. Seine erste Publikation erscheint im Rahmen eines Projekts, das geradezu absurd klingt: "Virtuelle Schtetl in Niederschlesien, dem Oppelner und Lebuser Land". Schtetl hat es in dieser Gegend Polens zuletzt im Mittelalter gegeben.
Schülerinnen und Schüler der Janusz-Korczak-Mittelschule im niederschlesischen Walbrzych, dem früheren Waldenburg, beschäftigen sich seit Jahren mit jüdischen Themen. "Wir erziehen unsere Kinder nach den Lehren Korczaks", erklärt Schuldirektorin Ewa Gratzke. Sie holt einige Jugendliche und den Lehrer der Geschichts-AG aus dem Unterricht. "Korczak hätte das Warschauer Ghetto verlassen können", erläutert sie der Gruppe. "Aber er ließ seine Waisenkinder nicht allein. Er starb in Treblinka gemeinsam mit ihnen." Die Schüler nicken. Sie kennen die Geschichte des berühmten Pädagogen.
Dann aber müssen sie passen. Von deutschen Juden haben sie noch nicht gehört. Der 15-jährige Marcin zuckt mit den Schultern. "Ich habe mir die Inschriften auf den Grabsteinen nie so genau angesehen." Auch die etwas jüngere Justyna staunt: "Deutsche Juden? Hier bei uns?" Der Lehrer greift ein: "Ob auf dem Friedhof deutsche oder polnische Juden liegen, das macht für uns keinen Unterschied. Es kümmert sich niemand um die Gräber. Also machen wir das."
Ignacy Einhorn, ehemaliger Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Wroclaw, kennt die Schule und ihr Engagement. "Es wundert mich nicht, dass die Kinder von der Vorkriegsgeschichte nichts wissen. Jahrzehntelang haben die polnischen Kommunisten alles darangesetzt, die deutschen Spuren im heutigen Polen zu vernichten. Das ist ihnen weitgehend gelungen." Ludwik Hoffman, Gründer der Jüdischen Sozial-Kulturellen Gesellschaft in Walbrzych, ist trotzdem froh, dass die Jugendlichen beim Aufräumen des Friedhofs helfen. "Die Erinnerung an die deutschen Juden in Waldenburg, ist längst gestorben", sagt er. "In wenigen Jahren wird uns polnische Juden im heutigen Walbrzych das gleiche Schicksal treffen. Wir sterben langsam aus. Die Gemeinde gibt es schon nicht mehr. Der Friedhof wird verwildern und jede Erinnerung an uns erlöschen." Hoffman ist oft in Deutschland, aber auch dort habe sich nie jemand für die deutschjüdische Kultur in Niederschlesien interessiert, klagt er. "Die Vertriebenen sind ja alle Arier", sagt er bitter. "Die interessieren sich nicht für Juden."
In Klodzko, dem früheren Glatz, wurden inzwischen einige Grabmäler auf dem jüdischen Friedhof restauriert. "Der Friedhof ist die letzte Spur, die von den deutschen Juden geblieben ist", erklärt Ignacy Einhorn. "Wir konnten junge Leute für diese Arbeit gewinnen." Finanziert und unterstützt haben das Projekt die Stiftung zum Schutz des jüdischen Erbes in Warschau und die deutsch-polnische Stiftung Kreisau in Niederschlesien. "Wir führen hier einjährige Projekte für internationale Freiwilligengruppen durch", erläutert Annemarie Franke, die Direktorin der Stiftung. "Nach der Teilrestaurierung des jüdischen Friedhofs in Klodzko sind einige der jungen Leute am Ball geblieben und bauen heute die deutsch-polnisch-jüdischen Beziehungen aus." Ein großer Erfolg, aber die Stiftung Kreisau sei auf ihre Geldgeber angewiesen. Das nächste Freiwilligenprojekt werde sich daher mit den Parks und Gartenanlagen in Niederschlesien beschäftigen. "So wird es leider keine Kontinuität geben", bedauert Franke.
"Das genau ist der Vorteil der Kulturgemeinschaft Borussia in Olsztyn, dem früheren Allenstein im Ermland", freut sich Monika Krawczyk, die Direktorin der Stiftung zum Schutz des jüdischen Erbes. "Die Kontinuität!" Die jungen Leute in Nordpolen engagierten sich nun schon seit Jahren für das Mendelsohn-Haus im früheren Allenstein, erzählt Krawczyk. So hätten sie dafür gesorgt, dass der jüdische Friedhof heute nicht mehr als Hundeklo benutzt werde, wie es über Jahrzehnte üblich war. Das Bet Tahara, das Haus der Reinigung, in dem die Verstorbenen gewaschen wurden, sei fast fertig restauriert. Die heutigen Allensteiner seien inzwischen stolz auf dieses Haus, das der Architekt Erich Mendelsohn (1887-1953) in seiner Geburtsstadt gebaut hat. "Die Friedhofshalle mit der Kuppel, die im Stil der Künstlergruppe des Blauen Reiters ausgemalt wurde, ist das Gesellenstück des berühmten Architekten."
Der Historiker Robert Zytyniec, der in Olsztyn geboren wurde und auch Mitglied der Borussia ist, setzt hinzu: "Die Polen, die 1945 in die früher deutsche Stadt zogen, kannten ihre Geschichte nicht. Sie waren mit dem Aufbau beschäftigt. Erst die Nachkriegsgerationen begannen sich intensiv für die Kulturlandschaft des früheren Ostpreußens und heutigen Ermlands und Masuren zu interessieren."
Kaum ein Pole habe gewusst, dass der Erbauer des Potsdamer Einsteinturms, der Hebräischen Universität in Jerusalem und vieler weiterer Bauten auf der ganzen Welt in Allenstein geboren wurde. "In Borussia sind Polen, Russen und Deutsche zusammengeschlossen, auch Ukrainer, Schweden und Litauer, eben alle, die mit dieser Region zu tun haben", sagt Zyzniec. Auch Juden, Protestanten und Russsich-Orthodoxe gehörten ihr an, Griechisch-Unierte und Katholiken. "Wir wollen wissen, wer wir sind, welche Traditionen wir von unseren zugezogenen Eltern übernehmen sollten und welche von den früheren Einwohnern dieser Region."
Ein ganz ähnliches Ziel verfolgt auch die Stiftung zum Schutz des jüdischen Erbes. Sie arbeitet meist mit Schulen zusammen. "Gerade was die Geschichte der deutschen Juden im heutigen Polen angeht, haben wir großen Nachholbedarf. Wir sind auf der Suche nach Partnern in Deutschland, die uns helfen und unterstützen können." Die polnischen Juden seien zu wenige. Es lebten nur noch einige Tausend im Land. Sie könnten sich nicht allein um die mehr als 1.200 jüdischen Friedhöfe und 200 Synagogen kümmern. "Viele Polen haben keine Ahnung vom kulturellen und historischen Reichtum, der sie umgibt", sagt Krawczyk. "Im Kommunismus wurde vieles bewusst zerstört. Wir lassen daher die Kinder auf Spurensuche gehen und hoffen, damit auch die Erwachsenen zu erreichen."
Mitunter werden aber auch im heutigen Polen Denkmäler enthüllt, die noch immer den Geist der Vergangenheit atmen. Vor dem Hauptbahnhof in Gdansk, ehemals Danzig, steht seit vergangener Woche ein Denkmal, das an die sogenannten Kindertransporte 1938/39 nach England erinnert. Insgesamt 11.000 zumeist deutschjüdische Kinder wurden damals vor dem Tod gerettet. Fünf Kinder mit Taschen und Koffern stehen als Bronzefiguren und wie abfahrbereit vor dem Bahnhof. Zu ihren Füßen sind die Namen der Städte eingraviert, aus denen sie abfuhren: Berlin, Dresden, Köln, Wien, Prag - und Wroclaw sowie Gdansk. "Das ist tatsächlich ein Fehler", sagt Piotr Kadlcik, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Warschau. "Denn die Städte hießen damals Breslau und Danzig, erst nach 1945 wurden aus ihnen Wroclaw und Gdansk."
Für viele der aus England, den USA und Israel angereisten Kinder, die heute zum Teil über 80 Jahre alt sind, war das Wiedersehen mit Danzig ein schmerzliches Erlebnis. Die Stadt wurde 1945 fast vollständig zerstört. Auch wenn die neuen, die polnischen Bewohner in den Nachkriegsjahren die Altstadt wieder aufbauten, hat sich doch sehr viel verändert. Von den früheren Synagogen ist nur diejenige in Langfuhr, dem heutigen Wrzeszcz, übrig geblieben. Bevor sie vor Kurzem der jüdischen Gemeinde in Gdansk zugesprochen wurde, diente sie als Musikschule.
Zur Feier des Tages verwandelte sich die Synagoge in ein Klein-Anatevka. Die polnisch-jüdische Gemeinde wollte den alten Danziger Juden, die von weither angereist waren, um ihre Heimatstadt noch einmal zu sehen, eine Freude machen. Doch der Kantor sang chassidische Lieder aus den Schtetln des früheren Ostpolens. Ganz so, wie es das Stereotyp des "echten Juden" in Polen will. Nur Mietek Abramowicz ließ in einer kleinen Präsentation Stationen des deutschen Judentums in Danzig Revue passieren.
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