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Polen im Fahrwasser der „Perestroika“

■ Weitreichende Thesen des Politbüros der Vereinigten Arbeiterpartei zu einer grundsätzlichen Demokratisierung / Förderung des Privateigentums und Betonung der Menschenrechte / Gerichtliche Überprüfung aller Verwaltungsakte / Offene Selbstkritik der Partei

Warschau (dpa) - Gut eine Woche nach dem Besuch von US– Außenminister Bush hat am Wochenende Staats– und Parteichef Jaruzelski grundlegende Reformen angekündigt. In einer am Freitag abend veröffentlichten Rede vor dem polnischen Journalistenverband in Warschau versicherte er, dies betreffe nicht nur die Wirtschaft, sondern auch einen „Umbau“ der Verwaltung und der zentralen Machtzentren. Das Zentralkomitee der Vereinigten Arbeiterpartei wurde für Donnerstag dieser Woche einberufen. Es soll die Entscheidungen billigen, die am Samstag dem Parlament vorgelegt werden. Jaruzelski warnte vor hemmenden „konservativen“ Tendenzen. Grundlage für die Diskussionen ist ein Thesenpapier des Politbüros, das am Wochenende in Auszügen bekannt wurde. Danach sollen das politische System grundsätzlich demokratisiert und die Wirtschaft völlig neuen Regeln unterworfen werden. Es sollen mehrere Formen des gesellschaftlichen Eigentums nebeneinander bestehen: staatliches, kommunales, genossenschaftliches und gemischtes Eigentum. Privates Eigentum bei der Kleinindustrie, im Dienstleitungsbereich, dem Handwerk und der Exportin dustrie soll nicht nur gefördert, sondern eventuell auch in der Verfassung garantiert werden. In ihren Bereichen soll die Privatiniative gleichberechtigt mit staatlichen Firmen konkurrieren. Kernstück ist die „Reform des Zentrums“ mit der Reduzierung der Anzahl von Fachministerien und zentralen Ämtern. Im Zuge des Kampfes gegen die Bürokratie sollen sie nach Möglichkeit nicht mehr direkt in den Wirtschaftsprozeß eingreifen, sondern ihn nur koordinieren. Monopolstellungen in der staatlichen Wirtschaft sollen reduziert und qualifizierte Fachleute, die nicht Parteimitglieder sind, bei der Besetzung führender Posten stärker berücksichtigt werden. Die Thesen, die am Wochenende im Politbüro weiter erörtert wurden, enthalten Vorschläge zu einer Demokratisierung des Systems, vor allem im kommunalen Bereich. Die Wahlordnung zu den Territorialräten soll reformiert, die Verwaltungschefs in den Kommunen sollen direkt gewählt werden. Die Bürger sollen das Recht haben, Vereine zu gründen, vorausgesetzt, daß deren Ziele nicht der Verfassung widersprechen oder sonst der Rechtsordnung zuwiderlaufen. „Übermäßige Furcht vor einer Aktivierung der politischen Gegner“ könne nicht zur Einschränkung der Menschenrechte wie Vereinsfreiheit und Freiheit des Wortes führen. Zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit sollen alle Verwaltungsakte von den Gerichten überprüft werden können. Ein erster Schritt in der „neuen Phase“ der Verständigung könnte ein Re ferendum über die jetzt vorgeschlagene Wirtschaftsreform sein. Die Partei beanspruche nicht das Recht auf Alleinherrschaft und lehne die Diskussion mit der Opposition nicht ab. Sie habe seinerzeit den Kampf um die politische Linie der Solidarität verloren und daher zum Mittel des Kriegsrechtes greifen müssen. Bei allem Verständnis für den Schock von damals appelliere sie jetzt an alle diejenigen, die die Partei verließen, in ihre Reihen zurückzukehren. Der katholischen Kirche bietet die Partei bei gegenseitiger Toleranz Zusammenarbeit bei der Lösung verschiedener gesellschaftlicher Probleme an.

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