Point 'n' Click: Der Rest ist Schreiben
■ Interaktive Biographien: CD-ROMs über Thomas Mann und Oskar Maria Graf
Seit der Erfindung der Druckerpresse gab es für das kollektive Gedächtnis der Menschheit nur ein Speichermedium: die Schrift. Nicht umsonst spricht man heute noch von Geschichtsschreibung, als würde von irgendeiner höheren Macht ein dickes Buch geführt. Jeder Geschichtsstudent bekommt weiterhin im Grundstudium eingehämmert, wie er sich seinen Quellen zu nähern hat: in einer Bibliothek nämlich, bitte schön.
Dabei hat seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Zahl und Art der Quellen explosionsartig zugenommen: Erst lieferte die Fotokamera Bilder der Welt, die der Wirklichkeit näher kamen als Gemälde. Dann begann die Filmkamera auch bewegte Abbilder von Königen und von Zügen, die in eine Station einfahren, und Handwerkern, die die Fabrik verlassen, zu liefern. Das Grammophon, später das Magnetband, machten Töne speicher- und abrufbar. Und dann konnten plötzlich all diese Bilder, Filme und Töne in digitale Codes verwandelt werden, und zwar auf CD- ROMs. Somit könnte die CD- ROM das ideale Medium sein für ein audiovisuell gewordenes Gedächtnis der Welt.
Das haben sich wohl auch die Herausgeber der beiden vorliegenden CD-ROMs, die sich als „interaktive Biographien“ verstehen, gedacht: Es sind die beiden ersten derartigen Produktionen in Deutschland, und so hat man sie – wir sind ja im Land der Dichter und Denker – zwei Schriftstellern gewidmet: Thomas Mann und Oskar Maria Graf. Leider scheint es von beiden Dichtern nicht übermäßig viel audiovisuelles Material zu geben; besonders „Nacha mach' ma halt a Revolution“ über Graf kommt nicht besonders multimedial daher. Ein paar Minuten Radiointerview mit Graf, die in den 50er Jahren in New York im sogenannten „Vierten Reich“ geführt wurden, einer Gegend voller deutscher Emigranten, in der Graf seit seiner Flucht aus Nazideutschland bis zu seinem Tod lebte, zwei kurze Videoclips, das war's. Der Rest ist Schreiben. Die meisten Literaturmuseen sind da mittlerweile multimedialer. Auch die Benutzerführung ist unübersichtlich: Und wer seiner CD-ROM eine 60seitige Bedienungsanleitung inklusive einer Karte beilegen muß, hat etwas falsch gemacht.
Optisch etwas opulenter ist die ROM über Thomas Mann: Der User bewegt sich entlang einer Zeitachse durch Manns Leben; wer auf kurze Stichworte, Jahreszahlen, Bilder klickt, erfährt mehr. Zu häufig gibt's leider nur einen Auszug aus Manns Tagebuch. Das hätte man nun auch in einem normalen Buch nachlesen können, auch wenn einem hier die ewigen Berichte über Manns Verdauungstätigkeit und diversen Zipperlein erspart blieben, die man aus dem originalen Tagebuch kennt. Gelegentlich gibt's allerdings auch interessante Dokumente, die nicht in eine gedruckte Biographie passen würden: so sind Auszüge aus den Radioansprachen zu hören, die Mann in Amerika gehalten hat; außerdem seine Schillerrede aus dem Jahr 1955 und Manns letztes Radiointerview. Allerdings ist es trotz langen Suchens nicht gelungen, auch nur ein einziges bewegtes Bild von Thomas Mann auf dieser CD-ROM zu finden – eine schwache Leistung. Daß diese beiden Produktionen so wenig von dem bieten, was alles auf einer CD- ROM sein könnte, hängt wohl auch damit zusammen, daß Oskar Maria Graf genauso wie Thomas Mann nicht gerade als Multimedia-Künstler bekannt sind. Wenn man ROMs über Schriftsteller machen will, wären Leute wie Peter Weiss, Rolf Dieter Brinkmann oder Peter Handke, die sich auch in anderen Medien betätigen, wahrscheinlich bessere Kandidaten. Noch interessanter könnten interaktive Biographien von Nam June Paik, Joseph Beuys oder Hans Richter sein, die Multimedia machten, bevor es das Wort überhaupt gab. Aber wahrscheinlich programmiert in irgendeiner Garage da draußen schon jemand genau daran... Tilman Baumgärtel
Angela Holzwig: Oskar Maria Graf – Nacha mach' ma halt a Revolution; Heribert Kuhn: Thomas Mann – Rollende Sphären. Beide CD-ROMs sind bei Driftwood/ Systhema erscheinen, kosten 98 DM und sind für PC mit Windows 3.11 oder höher.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen