Plädoyer für eine neue Universalgeschichte: Haiti statt Handy
Das neueste Buch der Philosophin Susan Buck-Morss zeigt eines: Wie wichtig der Sklavenaufstand von Haiti für Hegels Phänomenologie des Geistes war.
"Wer mag sich im Staub des Altertums begraben, wenn ihn der Gang seiner Zeit alle Augenblicke wieder auf- und mit sich fortreißt." Dies schrieb Schelling angesichts der revolutionären Geschehnisse 1795 an Hegel. In der heutigen revolutionären Zeit, wo es von Griechenland über Ägypten bis nach England überall lodert und brennt, dürfte es sich ähnlich verhalten. Der 220. Jahrestag des Sklavenaufstands in Haiti im August ging jedenfalls nahezu unbemerkt vorüber.
Gegen das Vergessen dieses für die Neuzeit so einschneidenden Ereignisses hat die amerikanische Philosophin Susan Buck-Morss nun ein fantastisches Buch vorgelegt: "Hegel und Haiti" beginnt mit der Frage, warum die Philosophen der Aufklärung unablässig gegen die heimische "Sklaverei unter der Krone" wetterten, zu der realen Versklavung der Schwarzen in den Kolonien aber stumm blieben.
Dass die bürgerlichen Aufklärer ihr Fortschrittsmodell aus Angst um die europäische Macht so sprichwörtlich weißwuschen, führt die Autorin jedoch nicht zu einer Denunziation des universalistischen Projekts als westlicher Herrschaftsstrategie. Dies verbietet sich schon deshalb, weil der haitianische Sklavenaufstand im Jahr 1791 von jakobinischen Freiheits- und Gleichheitsideen getragen wurde, die mit den Kolonialisten unter der Hand eingewandert waren.
Wenn die "französischen Ideale" von den Haitianern gegen die Franzosen durchgesetzt werden müssen, so die Frankfurter-Schule-Expertin Buck-Morss in ihrem mustergültigen Stück Kritischer Theorie, dann hat es keinen Sinn mehr, die Diskurse nach Nationen oder Kontinenten zu gruppieren.
Und spätestens wenn man weiß, dass die revoltierenden Sklaven mit einem Mix aus afrikanisch-europäisch-karibischer Voodoo-Freimaurerei hantierten, wird die Revolution in Haiti als weltgeschichtliches Phänomen greifbar. Als solches, die universale Menschheit betreffendes Ereignis, wurde es auch von Hegel begriffen. Das führt die Autorin anhand einer ebenso fulminanten wie spekulativen Indizienkette aus.
Aufstand der Knechte
Buck-Morss präsentiert eine regelrechte Detektivgeschichte: Wenn "Philosophie ihre Zeit in Gedanken gefasst ist", wie Hegel postuliert, könnte es dann nicht sein, dass dieser beispiellose Aufstand der Knechte gegen ihre Herren, der mit der Anerkennung der bisherigen Sklaven als selbstbewusste Subjekte endete, sich auch in seine philosophischen Texte einschrieb, zum Beispiel in die 1806 vollendete "Phänomenologie des Geistes"?
Welche List der revolutionären Vernunft, wenn die Sklavenerhebung unter der Parole "Freiheit oder Tod" ihrerseits als Blaupause für dieses Universalwerk gedient hätte, in dessen zentralem Kapitel ein "Kampf auf Leben und Tod" stattfindet.
Ist das nun alles "Staub des Altertums"? Keineswegs. Susan Buck-Morss Plädoyer für eine neue Universalgeschichte in einer globalen Öffentlichkeit ist von geisterhafter Aktualität. Das Schlüsselpaar unserer revolutionären Zeit, in der sich die Lebensrealitäten und die Protestformen von Tunesien über Spanien bis nach Israel immer mehr angleichen, lautet nicht Mark Zuckerberg und Handy, sondern Hegel und Haiti.
Susan Buck-Morss: "Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte". Aus dem Englischen von Laurent Faasch-Ibrahim. Suhrkamp, Berlin 2011, 217 Seiten, 16 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe