Pinar Selek über ihren Prozess: "Ich wurde zur Zielscheibe"
Die türkische Autorin Pinar Selek steht erneut wegen einer angeblichen Beteiligung an einem Bombenanschlag vor Gericht. Im Interview spricht sie über die türkische Justiz und Gerechtigkeit.
Gegen Mittag des 9. Juli 1998 unterbrachen alle Fernsehsender in der Türkei ihre Sendungen für eine Eilmeldung. Auf dem Ägyptischen Basar, einem der symbolträchtigsten Orte Istanbuls, hatte es eine Explosion gegeben. Sieben Menschen starben, 127 wurden verletzt. Die türkische Soziologin, Autorin, Friedensaktivistin und Feministin Pinar Selek erfuhr wie jeder andere aus den Medien von der Explosion. Wenige Tage nach der Explosion erfuhr sie noch mehr: Sie sei es gewesen, die die Bombe gelegt hätte.
Selek wurde beschuldigt, als Mitglied der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK am Anschlag beteiligt gewesen zu sein. Sie saß zweieinhalb Jahre im Gefängnis, wo sie gefoltert wurde. Bis heute ist unklar, ob eine Bombe der Grund für die Explosion war. Berichte von Sachverständigen sprachen dagegen. Das Verfahren endete mit einem Freispruch. In einem Berufungsverfahren wurde das Urteil jedoch aufgehoben. Selek musste sich am Mittwoch in Istanbul erneut vor Gericht verantworten. Der Prozess wurde nach kurzer Verhandlung auf den 22. Juni vertagt. Selek, die derzeit als Stipendiaten von der Schriftstellervereinigung P.E.N. in Deutschland lebt, sprach vor Verhandlungsbeginn mit der taz.
taz: Sie sind ständig unterwegs. ist das auch eine Art Überlebenskampf?
Pinar Selek: Ja, ich bin in einem ständigen Kampf. Ich möchte den Alptraum, in dem ich mich befinde, entkommen und mache alles, um dem nicht zu erliegen. Ich denke gar nicht an das Ende des Ganzen. Der Gedanke an das Ende stimmt mich pessimistisch. Ich mache heute, was in meiner Macht steht. Das kostet viel Kraft. Ich werde dabei auch müde. Nicht müde vom Arbeiten und vom Hin-und Herlaufen. Seit meinem Kindesalter bin ich nicht müde geworden von Arbeit. Ich werde nicht müde an meinen Büchern, meinen Untersuchungen oder meiner politischen Aktivität zu arbeiten, aber dieses dreckige Spiel reißt an meinen Nerven.
Wie wirken sich die Länge des Prozesses und die Höhen und Tiefen des Verfahrens auf Ihr Leben aus? Wie grenzt es Ihre Arbeit ein?
Auch wenn ich versuche, alles bisher erreichte weiterzuführen, fällt es mir doch sehr schwer. Vor kurzem erhielt ich von einer Einrichtung in Berlin einen Bericht. Darin wurden viele posttraumatische Symptome festgestellt und gesagt, dass die Verlängerung dieses Prozesses die Symptome verschlechtern werden. Aber nichtsdestotrotz ertrage ich alles. Meine Lebensfreude ist sehr stark. Sie können sie nicht auslöschen.
geboren 1971 in Istanbul, ist die Tochter des bekannten linken Rechtsanwalts Alp Selek. Sie besuchte das Französische Gymnasium, studierte Soziologie in Ankara und Paris. Selek ist Mitbegründerin der Frauenkooperative Amargi und organisierte nach ihrer Haftentlassung Frauentreffen für einen Dialog und Austausch in kurdischen Städten. Sie schreibt für türkische und kurdische Zeitungen und hat mehrere Bücher veröffentlicht.
Je mehr ich produziere, desto mehr komme ich zu mir. Letzte Woche habe ich meinen ersten Roman zu Ende gebracht und kürzlich wurde mein drittes Märchenbuch veröffentlicht. Ich arbeite an meiner Doktorarbeit im Fach Politikwissenschaften an der Universität Straßburg. Meine Arbeiten in der Türkei leite ich über das Internet. Natürlich nicht wie früher. Wenn man weit entfernt ist, grenzt das gewollt oder ungewollt meine Tätigkeit ein.
Woran würden Sie arbeiten, wenn all das nicht geschehen wäre? Wären die Themen die gleichen?
Ich hätte die gleichen Arbeiten mit denselben Methoden erledigt. Ich wäre sicherlich etwas energischer bei allem. Seit dem ersten Prozess sind Jahre vergangen, das Gerichtspersonal hat gewechselt, die Regierung ist eine andere und dennoch hat es den Anschein, als ob diese Klage eine Angelegenheit des Staates ist.
Was ist Ihrer Meinung nach der Grund, weshalb der Staat sich in die Angelegenheit einmischt?
Die Antwort auf diese Frage beantworten Medien und zivilgesellschaftliche Einrichtungen in der Türkei ähnlich: Auf meinem Rücken wird ein symbolischer Krieg ausgetragen und man möchte der Opposition und den Intellektuellen eine Nachricht übermitteln. Vor kurzem hat Etyen Mahçupyan geschrieben, dass ich Tabuthemen ansprechen würde und daher als Hexe angesehen werde und deshalb auch nach mittelalterlicher Gesinnung verbrannt werden sollte.
Ein Teil der Intellektuellen in der Türkei glaubte daran, dass sich mit der AKP-Regierung in der Türkei Entwicklungen bei Themen wie Meinungsfreiheit, Menschenrechten und Demokratie zeigen würden, ein Teil glaubt auch weiterhin daran. Hatten Sie selber Hoffnung, dass es sowohl bei Ihrer Anklage als auch generell bei diesen Themen eine positive Entwicklung geben würde?
Ich habe meine Hoffnung niemals aufgegeben. Ich habe nicht an den Wechsel der Regierungen geglaubt, vielmehr habe ich unserem Kampf Glauben geschenkt. Der Kampf um die Gerechtigkeit, den wir führen, wird zu einem Ergebnis kommen. Die AKP ist mit dem Demokratieversprechen an die Macht gekommen. Mit einer neuen konservativen und liberalen Orientierung wollte sie neben der Wirtschaft auch die Politik neugestalten und hat einige Ansätze gezeigt, die verstopften Regierungskanäle zu öffnen.
Aber ich glaube nicht daran, dass es sich um einen strukturellen Wandel handelt. Denn dieser Wandel geht nicht mit einer demokratischen Perspektive einher. Im Allgemeinen erlebt die Türkei derzeit eine Desillusionierung. Die grundsätzlichen Probleme sind weiterhin vorhanden. Es erfolgte noch keine geistige Abrechnung mit dem Nationalismus, dem Militarismus und mit dem Gewaltvorgehen. Die Regierung unternimmt nichts gegen die Verschwörung, die vor 12 Jahren begann und in der sie keine Rolle spielte und weiterhin nicht spielt, aber sie unternimmt auch nichts um sie zu stoppen. Ja, ich bin hoffnungsvoll, aber diese Hoffnung hat ihre Grenzen.
Einige Klagen in der Türkei wurden von der AKP-Regierung und von regierungsnahen Einrichtungen und Gemeinschaften politisch instrumentalisiert. Es wird kritisiert, dass der Einfluss der AKP außerhalb des juristischen Bereiches angelangt ist. Was sagen Sie über die Kritik, dass sich die AKP im Bereich der Justiz einmischt?
Groteskerweise werden in der Türkei viele Abrechnungen der Demokratiekämpfe in den Gerichtssälen geführt. Da die Legislative und die Judikative nicht auf einem demokratischem Fundament basieren, führen sowohl die Regierung als auch die Opposition ihren Machtkampf mittels dieser Mechanismen. Es ist durchaus normal, dass die Legislative von dem Handgemenge der Regierung beeinflusst wird, jedoch sollte die Judikative eine Garantie für ein demokratisches System sein. Seit längerer Zeit existiert in der Türkei keine Sonderstellung für die Judikative. Die staatlichen Sicherheitsgerichte, die Gerichte des 12. Septembers, die vorherigen und die jetzigen, sind voll von juristischen Skandalen.
Die Regierung sollte einen demokratischen Rechtsstaat entwickeln und auf diesem Fundament Sicherheitseinrichtungen errichten. Stattdessen haben sie die bestehenden Mechanismen als ihre Herrschaftsinstrumente benutzt. Die Prozesse, die jetzt an der Tagesordnung sind, sind weder die ersten, und wenn es so weiter geht wahrscheinlich auch nicht die letzten. Aus diesem Grund vertraut keiner den Beschlüssen der Judikative.
Wie bewerten Sie die Haltung der türkischen Medien in Bezug auf Ihren Prozess?
Bis jetzt haben die türkischen Medien in Bezug auf den Prozess keine homogene Haltung. In der ersten Zeit wurden sie gelenkt, aber ich finde, viele Journalisten haben das Spiel durchschaut und ihre eigene Haltung eingenommen. Innerhalb kürzester Zeit haben viele Journalisten versucht, trotz des enormen Drucks auf die Medien eine objektive Haltung einzunehmen. Das Absurde an dem Prozess und den Feindseligkeiten mir gegenüber ist so offenkundig, dass sich nicht nur die Linken, sondern Mitarbeiter aller Medien auf die Seite der Gerechtigkeit gestellt haben.
Andererseits wurde ich durch die Medien in die Schlagzeilen gebracht. Das ist es, was mich am meisten erschöpft. Ich habe mich in das Gedächtnis vieler als die Hauptdarstellerin eines scheußlichen Films eingeprägt, in dem ich nie mitspielen wollte. Es mag ein Vorteil sein, dass die Unrechtmäßigkeiten des Prozesses ans Tageslicht kommen. Aber es findet kein Ende. Bewusst oder unbewusst wurde ich zur Zielscheibe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga