Philosoph Negri über Krise und Rebellion: "We must try!"
Zerstört die Krise unsere Lebensgrundlagen? Der marxistische Philosoph Antonio Negri über verfehlte Kritik und neue Bedingungen der Ausbeutung.
taz: Herr Negri, zuletzt war häufig von Sozialismus die Rede: Vorschläge für die Verstaatlichung von Banken etc. Die Rezepte der parlamentarischen Linken scheinen mit den "postneoliberalen" Maßnahmen der konservativen Regierungen kompatibel. Sozialisten fällt bisweilen kaum Besseres ein als der Einwand, das alles ginge nicht weit genug. Blockiert der Sozialismus die Kritik der Politik?
Antonio Negri: Tatsächlich scheinen konservative und rechte Regierungen gerade wie Sozialisten zu agieren, das heißt auf den Staat zu setzen, um ökonomische Gleichgewichte durch staatliche Initiative wiederherzustellen. Allerdings ist das kein Keynesianismus und auch kein "Neo-Keynesianismus", weil die betriebene Politik keine Mediation mit den gesellschaftlichen Kräften vorsieht. Im Hinblick auf staatliches Handeln in der Krise steht tatsächlich Barack Obama für eine linke Kraft. Er hat ein Programm auf den Weg gebracht, das sich neben den unmittelbaren Kapitalinteressen verschiedener wichtiger Belange des Proletariats annimmt.
Darüber hinaus findet eine Rückkehr zum Welfare statt. Die radikale Linke ist vollkommen aus dem Spiel, weil sie nicht versteht, wer der Gegner ist: Der Gegner heute ist das Kapital in Gestalt des Finanzkapitals; das sogenannte Realkapital, das Kapital, das "Profit hervorbringt", ist darin ebenso vollständig absorbiert wie die verschiedenen anderen Gestalten des Kapitals, die Grundrente, das zinstragende Kapital etc. Das Finanzkapital selbst ist produktives Kapital.
geb. 1933, ist seit den 70er-Jahren einer der führenden Theoretiker der außerinstitutionellen Linken. 1979 wurde er zu 13 Jahren Haft verurteilt, die Anklage warf ihm vor, Kopf der Roten Brigaden zu sein. 1983 flüchtete er nach Paris, nach seiner Rückkehr nach Italien 1997 wurde er erneut inhaftiert. Seit 2003 wieder frei, lebt er heute in Venedig und Paris. Sein Buch "Empire" aus dem Jahr 2000 (gemeinsam mit Michael Hardt) wurde zum Weltbestseller.
Dieses Gespräch ist ein gekürzter Vorabdruck aus dem Band Antonio Negri/Raf Valvola Scelsi: "Goodbye Mr. Socialism. Das Ungeheuer und die globale Linke", Edition Tiamat, Berlin 2009, 239 Seiten, 16 Euro. Ab 18. 5. im Buchhandel erhältlich. Einen Film zum Interview gibt es von Alexandra Weltz (Parkafilm).
Von daher ist es idiotisch, das Finanzkapital als eine "ungesunde" Form des Kapitalismus anzugreifen. Das Finanzkapital heute repräsentiert den wahren Ausbeuter, es steht im Zentrum des sozialen Verhältnisses, in dem sich alle Formen der Ausbeutung, der Verwertung des Lebens verdichten.
Die "Finanzialisierung" wäre demnach, ähnlich der Globalisierung, ein unumkehrbares Merkmal des heutigen Kapitalismus?
Zu den zentralen Bedingungen kapitalistischer Ausbeutung heute zählen die Lebensumstände der Arbeitenden in ihrer Gesamtheit. Zu diesen Lebensumständen gehören die Wohnung und die Gesundheit ebenso wie die Perspektiven für das eigene Leben. All diese Elemente werden kapitalisiert, werden vom Kapital in einer Art und Weise durchdrungen, dass der Verwertungsprozess alles an gemeinsamem Wert erfasst, was gesellschaftliche Arbeit in Jahrhunderten kapitalistischer Geschichte hervorgebracht hat.
Wäre die gegenwärtige Krise damit eine Krise vollkommen neuen Typs?
Es sind eine Reihe von Faktoren, die diese Krise bestimmen: Erstens ist es nicht mehr die Ausbeutung der Arbeiterklasse, von der die Produktivität abhängt, sondern die Ausbeutung der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Hierzu muss das Kapital, zweitens, Kriterien bestimmen, um den gesellschaftlichen Reichtum erfassen zu können. Es sind zweifellos die Börsenbewertungen, die als solche Kriterien dienen. Eine Bewertung aufgrund von Finanzdaten allerdings hat, drittens, kein Maß, und dadurch ist die Krise eine umfassende. Freilich existiert eine Realität, die Realität des Finanzkapitals, und daher die Notwendigkeit, dem Geld ein Gegenüber zu geben: Das kann allerdings nicht die Industriearbeit sein, nicht das, was manche Linken den "wirklichen Reichtum" zu nennen nicht müde werden.
Der "wirkliche Reichtum" wird längst nicht mehr allein in der Fabrik produziert, sondern ebenso in den Universitäten, im Alltag, in den Städten, in allen Äußerungen des Reichtums, den die Sprachen unserer Gesellschaften hervorbringen. Einzig dem Finanzkapital gelingt es, das wahrzunehmen, doch gelingt es ihm nicht, dem ein Maß zu geben. Denn dafür müsste es diese ungeheure Produktivität von innen beherrschen.
Das ist der vierte Punkt, dass nämlich die Unmöglichkeit für das Finanzkapital, sich innerhalb des Prozesses zu positionieren, für die Krise bestimmend wird. Die Krise zu bewältigen wäre nur dadurch möglich, dass ein solch inneres Verhältnis hergestellt wird, dass aus den einander äußerlichen politischen Kräften eine einzige wird. Doch diese Einheit müssen und können die ProduzentInnen selbst schaffen.
Gibt es eine Kommunikation und Zirkulation der Kämpfe, wie man das früher einmal nannte? Oder befördert die Krise nicht vielmehr einen Backlash?
Als ich sehr jung war und anfing, Politik zu machen, als ich da zum ersten Mal mit den Genossen vor die Fabrik ging - wir suchten in unseren Aktionen damals häufig den Konflikt mit den Gewerkschaften -, da habe ich mir öfters diese Frage gestellt, woher die Dynamik der Kämpfe rührt. Wir wandten uns in der damaligen Situation gegen den Akkord. Niemand hatte uns gesagt - in den 50er und frühen 60er-Jahren -, dass der Akkord im Verlauf der 60er-Jahre in den gewerkschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen die zentrale Stellung einnehmen würde.
Tatsächlich waren es die Verhaltensweisen der Arbeiter, die sich gegen den Akkord und damit gegen eine bestimmte Form der Ausbeutung richteten, eine Form der Ausbeutung, die durch die Verfügung über die Arbeitszeit definiert war. Das Kapital versuchte, diese Form zu verallgemeinern, und dagegen entwickelten sich Widerstandsformen, die einen Fluchtpunkt fanden. Das war das Ereignis: Die Kämpfe in ihren unterschiedlichen Formen liefen in einem einzigen Punkt zusammen, und dieser Punkt war die Wiederaneignung der Zeit.
Ich erzähle diese Geschichten, um zu verdeutlichen, dass es heute drei Pole sind - das globale Bürgerrecht, das mit den Bewegungen der Migration verknüpft ist, das bedingungslose Einkommen, mit dem die Prekarität ins Spiel kommt, und die Wiederaneignung des Wissens und des Lebens, was auf die Probleme der Organisation des Wissens, seiner Produktion, verweist, also letztlich auf die kognitive und affektive Arbeit insgesamt -, dass es also diese drei Felder sind, die eine objektive Einheit bilden.
Sie ist objektiv, weil sie ein "Gemeinsames" zeigt: Weil Arbeiterinnen und Arbeiter auf diesen drei Ebenen Auseinandersetzungen führen - beispielsweise drehen sich Konflikte in Indien um die Wiederaneignung des Wissens, in China ist die Anerkennung der Bürgerschaft ein grundlegendes Problem, der Kampf um das bedingungslose Einkommen ist geeignet, zu einem grundlegenden Konflikt in Europa und in den USA zu werden. Ob es heute zu einem Backlash kommt oder nicht - ich weiß es nicht.
Die Krise beschleunigt offenbar die Zerstörung der Lebensgrundlagen einer großen Zahl von Menschen. Ohne in den Alarmismus einzustimmen: Verbindungen zwischen Krise, Ausschluss, Populismus und Rassismus fallen auf. Was heißt unter diesen Bedingungen, politisch zu handeln?
Was die revolutionären Bedingungen anbelangt, bin ich ja relativ optimistisch. Dagegen werden umfassende Repressionsmittel in Stellung gebracht. Genau deshalb ist der Bruch notwendig. Aber ich erinnere mich auch des Zynismus der italienischen Kommunisten in den 50er-Jahren, die damals sagten, um den Faschismus zu schlagen, müsse es Tote geben: "Wir brauchen Tote auf der Straße." Das war etwas, was ich zutiefst verabscheut habe. Die politische Botschaft lautete, um jeden Preis Widerstand zu leisten.
Heute geht es aber eher um die Revolte gegen die Erwerbslosigkeit, gegen die Verschuldung, um die konkrete Wiederaneignung. Es ist die kognitive, intellektuelle lebendige Arbeit, die innerhalb der Prekarität ein für die politische Organisierung und Neuzusammensetzung extrem wichtiges Element darstellt. Es geht um die Probleme der Instituierung des Gemeinsamen. Diese Krise bedeutet einen Sprung, sie klärt die neuen Bedingungen der Ausbeutung, doch zugleich die neuen Bedingungen des Widerstands.
Wirtschaftspolitik richtet sich wieder stärker auf den nationalen Staat aus. Ist das das Ende des Empire, wie Michael Hardt und Sie es beschrieben haben?
Die Globalisierung ist unumkehrbar, davon bin ich überzeugt. Wenn wir ferner feststellen, dass das Finanzkapital heute zur dominanten Form kapitalistischer Akkumulation geworden ist und sich alle anderen Formen einverleibt, dann besagt das genau das Gleiche. So gesehen scheint mir das ganze Gerede über einen "neuen Protektionismus" viel Lärm um nichts. Ich glaube in keinster Weise an eine Renaissance protektionistischer Regime, die noch dazu in der Lage wären, protektionistische Politiken durchzusetzen, also letztlich Ansätze neuer Imperialismen. Der Euro setzt seinen Weg als Einheitswährung fort, weil es so möglich wird, Lettland oder Litauen vor dem Zusammenbruch zu bewahren oder Island zu retten. Die Neugliederung nach dem Ende des US-amerikanischen Unilateralismus wird auf kontinentalen Regionen beruhen.
Die Protagonisten eines bestimmten sozialen Reformismus - darunter auch Barack Obama - setzen auf einen sogenannten Green New Deal. Zielen solche Maßnahmen nur darauf, die Kapitalakkumulation wieder in Gang zu bringen, oder eröffnen sich damit auch Perspektiven, die über den jetzigen Zustand hinausweisen?
Man kann das Phänomen Barack Obama nicht einfach mit einem Programm wie dem Green New Deal gleichsetzen. Die große Bedeutung Obamas liegt darin, dass er für eine neue Vorstellung von Regierung steht. In dieser Wahl wird ein konstitutioneller Wandel sichtbar. Obama wurde nicht einfach nur gewählt, er ist zugleich ein Produkt der Bewegungen, der US-amerikanischen Gesellschaft. Zum ersten Mal seit den 1930er-Jahren ereignete sich so etwas in einem großen kapitalistischen Land.
Die große Frage, die sich im Zusammenhang mit Obama stellt, ist nicht, ob es ihm gelingen wird, die Herrschaft des Kapitals wiederherzustellen, was selbstredend das Ziel der herrschenden Klasse in den USA ist, sondern ob es ihm gelingen kann, eine Beziehung zwischen Bewegungen und Regierung aufrechtzuerhalten. Die Situation in den USA heute ist für mich eine weiterhin offene. Wir befinden uns in einer Passage, einer faszinierenden Situation des Übergangs. Hier müssen wir weiter forschen und den Versuch wagen, einen Pragmatismus der Revolution zu entwickeln. Jeden Tag anders. We must try!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich