Philipp Rhensius Was macht mich?: Ich will Gespenster vergessener Utopien wecken
Ich mag den frühen Morgen und verpasse ihn oft. Ich bin weiß und männlich und schäme mich dafür. Das ist megaweiß und -männlich. Ich schaue gerne Reels und Serien parallel, um für die Herausforderungen des Alltags zu trainieren. Mit 18 verweigerte ich den Kriegsdienst.
Zu der Zeit schrieb ein Philosoph, Clubs würden die Jugend auf den Krieg vorbereiten. Vielleicht gilt heute dasselbe für Reels. Ich liebe düstere Clubmusik, die mich lehrt, Schönheit im Bedrohlichen zu finden. Wenn mir meine Nichte im Sandkasten ein Eis schenkt, berühre ich die Kugel aus Sand, die sie in eine Plastikwaffel gestopft hat, nicht wirklich mit meiner Zunge. Ich stoppe drei Zentimeter davor.
Es gibt Loops, die mich befreien: zu denen ich tanzen kann. Es gibt Loops, die mich einsperren: Meinungen wie Fallen im Raubtiergehege – sie schnappen zu, wenn sie die Welt bei der nächsten Lüge erwischen, damit ihnen die Dämonen aus dem Feed zuzwinkern.
Wie wäre es, sich zu bewegen wie Tiere, die kein Gehege kennen – quer zu Systemen, quer zu Grenzen? Ich finde es okay, ein Einkommen zu haben, das unter dem Existenzminimum liegt. Voll privilegiert, so was zu sagen.
Ich liebe viele Menschen. Ich sage es ihnen meistens nicht. Es soll ein Geheimnis bleiben – bis zu dem Tag, an dem ich nichts mehr fühle. Weil ich besser mit der Möglichkeit lebe als mit der Gewissheit, dass es nicht erwidert wird. Kommt eine Person in einen Blumenladen und fragt: Wo sind denn hier die gansen Roses?
Ich bin geflasht von Witzen, die Dinge unverbunden nebeneinanderstellen. Dort darf alles nebeneinanderstehen, ohne zu zerbrechen. Gefragt zu werden, was ich arbeite, macht mich nervös. Ich mache weder dies noch das, fühle mich in jeder Rolle fehl am Platz. Es klingt so überheblich, das zu behaupten.
Ich finde, Solidarität darf nicht selektiv sein. Sie muss auch mit denen möglich sein, die nicht denselben Kram in der Schule lernen, dieselbe Sprache sprechen, die gleiche Staatsräson teilen.
Ich habe irgendwann vergessen, was ich will. Fuck, ich wollte mal so viel. Heute spiele ich bis nachts Percussion im Studio, während andere Windeln wechseln oder edlen Whisky in Bars trinken, die aussehen wie Apple Stores. Bevor es Autos gab, wurden Straßen gebaut. Bevor es Geld gab, wurden Wünsche erfunden, die nur gekauft werden können.
Als Kind wollte ich oft Markenkleidung, bekam sie nur selten. Ich wollte dazugehören. Irgendwann merkte ich: Ich will das gar nicht. Und ahnte: Zu verweigern, was alle wollen, ist vielleicht das Wollen, das ich wollen soll. Eine Freundin schrieb mal ein Manifest, das mich krass beeindruckte.
Die Ideen fühlten sich so neu an. Ich erinnere mich, wie mir die Freundin an einem Sommerabend den Joint reichte und den letzten Satz daraus vorlas: „Wenn die Natur ungerecht ist, ändere die Natur.“
Seitdem traue ich mich manchmal, Wünsche zu äußern in einer Welt, die sich nur spürt, wenn sie stetig wiederholt, wie scheiße alles ist, wie scheiße alles ist.
Seitdem will ich sehr viel. Seitdem will ich, keine Ahnung, Brücken bauen, Gespenster vergessener Utopien wecken – und in der Leere zwischen Freundschaft und Liebe liegen und Musik hören. Wenn die Natur ungerecht ist, ändere die Natur.
Ich versuche mein Bestes.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen