Philipp Rhensius Was macht mich?: Ästhetik ist kein Luxus, sondern eine Form für das Unfassbare
Ich sitze auf dem Boden einer Residency in der französischen Provinz. Um mich herum 60 Menschen aus den Bereichen Musik, Literatur, Performance und Theorie. Wir hören einer palästinensischen Künstlerin zu. Letzte Woche seien die Nachbarn ihrer Eltern von Raketen der israelischen Armee umgebracht worden. Die Eltern hätten es am Telefon nebenbei erwähnt. Dann erzählt sie, warum sie in ihren Filmen oft den Tod verhandelt. Das tote Lamm in einem ihrer Kurzfilme ermögliche es, den Tod anzufassen, ihn zu verstehen, dem Summen der toten Seelen zuzuhören.
Gespenstische Stille im Raum. Ich schäme mich. Dass wir über ästhetische statt „echte“ Dinge sprechen. Dann denke ich: Bullshit. Diese Scham kommt aus meiner Kindheit, als mir ein kunstfernes Leistungsprinzip eingeprügelt wurde. Beim Schreiben von Gedichten oder Musik muss ich immer wieder erinnern: Ästhetik ist kein Luxus. Sie ist Widerstand, gibt Struktur, formuliert Wünsche – jenseits von schlafen, essen, arbeiten. Manchmal ist sie die einzige Form, mit der sich das Unfassbare denken lässt. Vielleicht ist größte Unfassbare derzeit, dass alles gleichzeitig passiert.
Während ich das hier schreibe, verfehlen Raketen angeblich ihre Ziele – und treffen Körper –, und in der Kommentarspalte wird gefragt, ob sie wirklich unschuldig waren. Eine alte Volkspartei vergleicht Seenotrettung mit Schlepperei. 96 Prozent der Kinder in Gaza glauben laut einer Befragung des Community Training Center and Crisis Management (CTCCM) in Gaza und der Organisation War Child, dass sie bald sterben werden. Nach einer Studie der University of New Mexico liegt der Mikroplastikanteil im Gehirn bei 3,4 Prozent. Anhand eigener Beobachtungen blockiert das Plastik das Empathiezentrum um 97 Prozent – kleiner Scherz.
Während ich das hier schreibe, liegt mein Stiefvater im Krankenhaus und kleckert Schokoeis auf das weiße Shirt, das ihm kurz zuvor gewechselt wurde. Seine Zunge ist zu schwach, doch seine Arme auch. Der weiße Plastiklöffel auf dem Nachttisch bleibt unberührt.
Während ich das hier schreibe, fordert eine trans Person auf der Residency: Leute, benutzt bitte ständig die falschen Toiletten – allein werden wir diesen Kampf nicht gewinnen. In einem hippen Café in Neukölln zieht ein Mann seine APC-Sonnenbrille ab und sagt: „Früher war das hier echter.“ Sorglose tanzen auf einem Rave im Park und lassen ihren Müll später liegen. Abends spiegelt sich der Mond im gebrochenen Glas.
Während ich das hier schreibe, höre ich meinem inneren Feed zu. Ich höre die peinliche Sehnsucht nach Gerechtigkeit, das Scheitern am westlichen Ordnungszwang, die unterdrückten Gefühle, die mich in Momenten glücklichen Wahnsinns erschrecken. Der Kopf versucht zu sortieren, was der Körper längst gespürt hat.
Wie viel Welt passt in einen einzigen Augenblick, ohne dass etwas zerreißt? Oder ist die bessere Frage: Wer entscheidet, was zu viel ist – und für wen?
Wirklichkeit ist keine geordnete Abfolge. Sie ist roh, chaotisch. Sie lässt sich nicht ordnen, nur aushalten. Vielleicht geht es nicht darum, alles zu fühlen – aber auch nichts zu verdrängen. So ist der ungenutzte Löffel ein ästhetisches Symbol für etwas, das sich der Sprache entzieht. Das Ästhetische bewahrt, was das scheinbar Echte überrollt. Wie das tote Lamm im Film: zu klein für Pathos, zu echt, um vergessen zu werden.
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