Philipp Rhensius Was macht mich?: Fragen über Fragen über Fragen über Fragen über …
Kohärenz ist eine Lüge aus den nuller Jahren, als alle Jeans und T-Shirt trugen. Damals ging ich zur Schule. Es gab gut und böse – und den Common Sense, dass Geschichte linear verläuft, immer Richtung Fortschritt. Viele haben das geglaubt. Ich und meine Freund*innen nicht. Wir waren voll die Nervensägen. Wir verstauchten uns die Füße in Moshpits, brachen uns die Herzen in stickigen Kellern, vernebelten uns die Sinne in den Pausen hinter der Turnhalle, schauten Trashfilme und erfuhren von Bruce Lee: „Ein weiser Mensch lernt mehr von einer dummen Frage als ein dummer von einer weisen Antwort.“ Wir ahnten: In einer Welt, die auf alles Antworten hat, müssen wir Fragen stellen. Wer macht die Lehrpläne? Wem gehört die Schule? Wer hat sie gebaut? Wer putzt ihre Toiletten? Warum verdienen Lehrer*innen viel mehr als Putzkräfte? Warum kommt nachmittags statt „Alf“ Reality-TV, wo Arbeitslose so viel Müll labern, bis Fremdscham genug Ressentiment für neoliberale Reformen erzeugte?
Wir dachten, wir hätten die richtigen Fragen gefunden. Dann entblößten sich die Lügen selbst. 9/11. Die Angst in Flughäfen und Köpfen. Songs, zu denen wir moshten, wurden in Guantánamo zur Folter benutzt. Die Welt wurde nicht klüger, nur weil sie WLAN hat. Sie wurde kindischer, fieser, rassistischer – und sah immer schöner, gesünder, cooler aus. Damals wurde Kohärenz inszeniert, es gab eine Erzählung. Heute gibt es tausend Versionen – und ich muss eine wählen. Weit oben rangiert die von Techpsychos und Rechten. Sie verkaufen ihre Politik als Disruption, sind aber überangepasst. Sie wollen zurück zu dieser Ordnung – die es nie gab.
Meine Clique gibt es nicht mehr. Doch wir hätten sicher neue Fragen. Was regiert dich? Deine Sehnsucht? Dein Job? Die Arschlöcher auf Tiktok? Würde dich deine Kinderversion mögen? Warum sind Menschen heute klüger, aber verhalten sich dümmer? Warum macht Canceling mehr Angst als Faschismus? Warum sieht die Zukunft, die Parteien versprechen, aus wie eine Powerpoint-Präsentation von 2013? Ist der Kampf zwischen Gut und Böse nicht eher einer zwischen Arbeit und Kapital?
Warum sind die einzigen Orte, die sich wie zu Hause anfühlen, offene Tabs? Wie oft hast du dich schon empört und es kurz danach vergessen? Wenn die Self-Checkout-Kasse Danke sagt, meint sie es auch?
Würdest du den Abzug drücken, wenn du dich verteidigen musst? Weißt du, was du musst? Glaubst du, was du müssen sollst? Was weißt du über das, was du nicht weißt? Hast du Angst davor? Wer profitiert davon? Warum gibt es 50 Namen für Beige, aber keinen für das Warten, wenn „tippt“ aufblitzt und wieder verschwindet? Warum gibt es ein Emoji für kaputte Teller, aber keins für die Erleichterung, die du verspürst, wenn beim Anrufen niemand das Telefon abhebt?
Glaubst du, der Kapitalismus ist nicht Teil von dir? Glaubst du dir manchmal selbst nicht? Was magst du lieber, ficken oder gefickt werden? Kann Liebe vergehen oder nur die Idee, wie sie hätte sein sollen? Kannst du mal die Fresse halten? Woran geht Demokratie zugrunde? Wann wird Zuversicht dumm? Wen würdest du küssen, wenn die Welt untergeht? Sind Sonnenuntergänge über Müllhalden die einzig wahre Melancholie?
Keine Ahnung. Fragen sind ein Anfang. Sie verlangen keine Kohärenz und erlauben, mit Widersprüchen zu leben.
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