Philipp Lahm und der Einzug ins Finale: Fußballerischer Extremismus
Gegen die Türkei war eines ihrer schlechteren Spiele. Lahms Schwanken zwischen unpässlich und großartig erweist sich als exemplarisch: So geht es im EM-Turnier dem gesamten Team.
BASEL taz Die technische Kommission der Uefa muss ein wankelmütiger Haufen sein. Sie bestimmt nach jeder Partie den "Man of the Match", und kurz nach Spielende wurde im Basler Stadion verkündet, dass der türkische Mittelfeldakteur Ugur Boral sich die Trophäe in die Vitrine stellen darf. Nur ein paar Minuten später wurde nicht Boral als der beste Kicker des Abends präsentiert, sondern der Deutsche Philipp Lahm. Sehr merkwürdig, das Ganze. Boral war eindeutig der Bessere. Aber wollte er nicht? Durfte er nicht? Hatte die Uefa Weisung erhalten? Man weiß es nicht genau.
Auf dem Podium saß nun jedenfalls Philipp Lahm. "Dass ich heute den Preis ,Man of the Match' kriege, na ja, ich weiß nicht", sagte Lahm, "ich glaube, da hat es andere Spiele gegeben, wo ich ihn verdient gehabt hätte." Beschämt war er nicht, aber verwundert über den Ratschluss der Kommissare.
Lahm war an diesem Abend ein spielerischer Extremist. Auf einen haarsträubenden Fehler folgte eine starke Offensivaktion, auf eine Unpässlichkeit in der Abwehr folgte das exzellente Siegtor in der 90. Minute. Die Amplituden seiner Form schlugen wild nach oben und unten aus. Man konnte nie sicher sein, ob Lahm in der nächsten Situation den Ball streichelt oder misshandelt.
In der Defensive passte er sich dem Niveau seiner Nebenmänner an, und das sei "sehr schlecht" gewesen, wie Per Mertesacker selbstkritisch bekannte. Von Jens Lehmann ging keine Sicherheit aus, Christoph Metzelder darf gleichfalls nicht als Stabilisator im Strafraum bezeichnet werden. Und Arne Friedrich, der Vierte im Bunde, fiel wenigstens nicht negativ auf.
Anders sah es in der Spitze aus. Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski wirkten recht munter. Im Zusammenspiel besorgten sie den Ausgleich, auch sonst kompensierten sie die erheblichen Defizite in deutschen Mittelfeld, soweit es eben ging. Dass sich Lahm nach seinen Patzern nicht entmutigen ließ und noch eines der schönsten Tore dieses Championats zustande brachte, das ist eine kleine psychologische Meisterleistung. "Ja, ich sehe beim 2:2 nicht gut aus", sagte Lahm, "es war trotzdem ein ganz ordentliches Spiel. Am Ende überwiegt die Freude über das Finale, nachdem wir 2006 ja gescheitert sind."
Das erratische Spiel im Basler St.-Jakob-Park hat die DFB-Elf also ins Endspiel der Europameisterschaft gebracht. Dort standen sie letztmalig 1996; die Partie damals endete mit einem Sieg per Golden Goal. So ein wichtiges Tor habe er jetzt auch geschossen, versicherte der Bayern-Profi nach dem Match, wichtiger noch als das schöne WM-Tor 2006 im Auftaktspiel der DFB-Elf.
So wie es mit Lahm im Spiel auf und ab ging, so geht es mit der deutschen Elf von Spiel zu Spiel auf und ab. Der Auftakt gegen Polen gelang, dann kam der inferiore Auftritt gegen Kroatien. Gegen Österreich lief es durchwachsen. Im Spiel gegen Portugal bewies das Team von Bundestrainer Joachim Löw Format, um in der folgenden Partie "glückhaft", wie die Neue Zürcher Zeitung in ihrer aktuellen Ausgabe schreibt, ins Endspiel zu kommen.
Es mangelt dem deutschen Team an Konstanz. Dass es dennoch um die Trophäe spielen darf, ist auf individuelle Willens- und Kraftakte zurückzuführen - von Michael Ballack und seit Mittwochabend auch von Philipp Lahm, dem Unberechenbaren.
"Spielerisch haben wir den etwas besseren Fußball als Deutschland gespielt", sagte Fatih Terim. Stolz, sehr stolz sei er auf seine Mannschaft, "von der die Welt in der Zukunft noch hören wird". Terim, der mit allen Wassern gewaschene Coach der Türken, war nicht sonderlich zerknirscht, nein, sagte, er, "Fußball ist eben so, manchmal zappelt der Ball im Netz und manchmal nicht". Das heißt: Fußball ist nur selten gerecht. "Wir hätten es fast geschafft, aber wir verlassen das Turnier als eine der farbenprächtigsten Mannschaften."
Eher grau war die Farbe des deutschen Spiels im Halbfinale, nur mit ein paar bunten Beimischungen. Dazu gehörte die geradezu erschreckende Effizienz der grau-graupelnden deutschen Elf: Aus drei Schüssen beziehungsweise einem Kopfball auf Rüstüs Kasten machten sie drei Tore. "Was zählt, ist die Effizienz", postulierte denn auch Joachim Löw. Doch trotz der hübschen finalen und effizienten Momente drückte den Spielern das Grau ihres Spiels noch auf die Gemüter. Euphorisch waren eigentlich nur Schweinipoldi, der Rest räsonierte, grübelte, betrieb Selbstreflexion. "Wir haben es versäumt, aggressiv nach vorne zu verteidigen", sagte Lahm.
"Wir haben lethargisch gespielt", sagte Per Mertesacker, "es war nicht sehr gut von uns, es kann eigentlich nur besser werden." Und weiter: "Heute haben wir nicht viel beeinflusst, nur drei Situationen, und das hat gereicht." Der Captain, Michael Ballack, räumte ein: "Wir hatten das ganze Spiel zu tun, um ins Spiel zu finden." Philipp Lahm hat ihn dann doch noch gefunden, den Weg ins Endspiel. Am Sonntag in Wien kann der kleine Extremist wieder zuschlagen.
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