Pfarrer über Kinderheime: „Geschlossene Heime können helfen“
Mit Freiheitsentzug zur Freiheit erziehen? Das geht nicht, sagt Pfarrer Fricke-Hein. Trotzdem seien geschlossene Heime manchmal sinnvoll.
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taz: Herr Fricke-Hein, in den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Kinder in geschlossenen Heimen in Deutschland mehr als verdoppelt, auf 389. Wird die Jugend unkontrollierbarer?
Hans-Wilhelm Fricke-Hein: Es ist schon so, dass die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, zunehmen. Das liegt auch an der Individualisierung unserer Gesellschaft und am Fehlen von erzieherischen Vorbildern. Zudem haben viele Kinder Beziehungsabbrüche erlebt. Andererseits muss man sich aber fragen, ob die richtige Reaktion darauf ist, die Zahl der Kinder in geschlossener Unterbringung zu erhöhen. Das wage ich zu bezweifeln.
Gibt es denn Fälle, in denen eine geschlossene Unterbringung gerechtfertigt sein kann?
Ja, die gibt es leider. Man muss geschlossen unterbringen, wenn Kinder für sich oder andere eine Gefahr darstellen. Bei uns sind das sexuell übergriffige und grenzverletzende Jugendliche, die in den ersten Wochen freiheitsentziehenden Maßnahmen unterliegen. Grundsätzlich gilt aber: Man kann nicht durch Freiheitsentzug zur Freiheit erziehen. Wenn allerdings die geschlossene Unterbringung als Hilfe erlebt wird – auch das ist möglich –, kann das für eine kurze Zeit angebracht sein.
Die taz schrieb im Dezember 2012 erstmals über Missstände in den Heimen der Haasenburg GmbH in Brandenburg. Insassen berichteten über Demütigungen und monatelange Isolation. Die brandenburgische Jugendministerin Martina Münch (SPD) reagierte im Juli auf die Anschuldigungen und verhängte einen Belegungsstopp.
Am Wochenende berichtete Der Spiegel über weitere Missbrauchsvorwürfe. Eine 16-Jährige, die 2008 aus dem Fenster eines Heimes stürzte und zu Tode kam, habe sich von einem Erzieher sexuell belästigt gefühlt. Die Staatsanwaltschaft Cottbus ermittelt.
Sitzen die Kinder dann den ganzen Tag allein im Zimmer?
Das darf auf keinen Fall sein. Sie dürfen nur nicht allein hinaus. Aber sie absolvieren auf jeden Fall ihr pädagogisches Programm. Isolierung hat oft Ängste und Bedrohungsfantasien zur Folge. So weit darf es nicht kommen. In einer geschlossenen Unterbringung ist der erste Gedanke oft: „Wie komme ich hier raus?“ In einer offenen Einrichtung stellt sich ein Kind eher die Frage: „Was bringt es mir, wenn ich hier drin bin?“
Wenn ein Kind sich verweigert?
Sport spielt eine große Rolle, aber auch Kunst und Musik. Darüber kann man oft Beziehungen aufbauen. Wenn ein Kind aus einem Heim mehrmals wegläuft, müssen Jugendamt und Sorgeberechtigte mit dem Kind überlegen, ob es dort richtig untergebracht ist. Man kann ein Kind nicht gegen seinen Willen irgendwo unterbringen, wenn es nicht eine Gefahr für sich selbst und andere ist.
Die taz deckte im Juni auf, dass in den Heimen der Haasenburg GmbH in Brandenburg Kinder mutmaßlich über Monate hinweg isoliert wurden …
… wenn das so ist, kann ich nur sagen: Das geht gar nicht! Sicherlich ist es mal gut, wenn ein Kind alleine für sich zur Ruhe kommt. Aber es darf nicht sein, dass Kinder bewusst isoliert werden. Die sollen das soziale Miteinander lernen. Außerdem können sie oft von anderen Kindern lernen, wie diese mit schwierigen Situationen umgehen.
Was sollte mit den Einrichtungen der Haasenburg GmbH geschehen, wenn sich die Vorwürfe bestätigen?
Wenn es genauso ist, wie es dargestellt wurde, dürfte keine Betriebserlaubnis erteilt werden. Das hieße, dass man die Arbeit stoppen müsste. Aber man muss aufpassen: Die Haasenburg ist ein großes System. Wenn in einer Gruppe diese Vorfälle gewesen sein sollten und in anderen nicht, dann wäre es nur sinnvoll, dafür zu sorgen, dass es in dieser einen Gruppe aufhört.
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