Perspektiven gegen Armut : Immer da sein, wo es brennt

Im Vorfeld der taz.meinland-Veranstaltung in Bremen sprachen wir mit dem ehemaligen Quartiersmanager Jörn Hermening.

Mühen in Bremen-Tenever, wo sozialer Aufstieg ein Kraftakt ist Bild: dpa

taz: Herr Hermening, was macht ein Quartiersmanager?

Jörn Hermening: Quartiersmanager sind für alles zuständig. Benachteiligung wirkt sich auf alle Lebenssituationen aus, deshalb gibt es keine Abgrenzung der Zuständigkeit. Sie sind Mitarbeiter der städtischen Verwaltung und trotzdem hierarchisch nicht richtig eingebunden, sondern immer aufseiten der Bürger. Diese können ihre Interessen in den Stadtteilgruppen einbringen, und an die Beschlüsse ist der Quartiersmanager gebunden – auch wenn der Bürgermeister anderer Meinung ist. Die Politik hat so die Möglichkeit, Fehlentwicklungen zu erkennen.

Also stehen Sie im ständigen Bürgerdialog?

Ja, klar. Das ist jedenfalls mein Verständnis von der Aufgabe. Verortet sind wir im Quartier und nicht im Büro mit zweimal Sprechstunde pro Woche. Da würde eh keiner kommen. Sie müssen an der Wohnungstür klingeln und fragen, was man vor Ort voranbringen kann. Die erste Antwort ist immer: Wir können ja eh nichts ändern. Aber die benachteiligten Stadtteile haben alle ein Budget von einer Viertelmillion pro Jahr, worüber die Bürger selbst entscheiden können.

ist seit 2016 parteiloser Orts­amtsleiter in Bremen-Hemelingen. Dort war er auch über zehn Jahre Quartiersmanager, bevor er ab 2011 im Stadtteil Bremen-Tenever in der gleichen Funktion arbeitete.

Was konnte in Bremen durch Quartiersmanager konkret bewirkt werden?

Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir ein Stadtteilbesuch des Bürgermeisters, bei dem deutlich gemacht wurde, dass viele Kinder in den Kindergärten Hunger haben. Pro­ble­matisch war, dass die Eltern, die Transferleistungen empfangen, die üblichen Sätze für das Essen nicht bezahlen konnten. Daraufhin mussten sie für das Kindergartenessen nichts mehr zahlen.

Wie wirkt sich die hohe Arbeitslosigkeit auf das städtische Leben in Bremen aus?

Hier fährt der Maserati durch das Hochhausquartier. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich wachsen weiter. Wir erkennen das an einem öffentlichen Sozialmonitorring auf Wohnblockebene. Vor zehn Jahren gab es auch in gut situierten Stadtteilen vereinzelt sozialen Wohnungsbau. Aber die Förderung ist überall ausgelaufen. Und die privaten Wohnungsbaugesellschaften haben die Mieten hochgesetzt.

Mit welchen Problemen waren Sie als Quartiersmanager konfrontiert?

Als Erstes geht es Menschen um die pure Existenz, darum, Lebensorte für sich und ihre Familie zu finden. In Tenever hatte ich viel mit Leuten zu tun, die in Häusern von privaten Investoren gewohnt haben, dort herrschten teilweise katastrophale Wohnbedingungen. Es waren keine richtigen Rettungswege vorhanden, oder man konnte durch die verfaulten Fensterrahmen gucken. Da musste ich mich mit großen Konzernen auseinandersetzen, die meinten, es wäre alles in Ordnung. Armut ist das zweite Problem. Vor allem die Frage, wie kriegen wir es hin, dass es unseren Kindern besser geht.

Was sollte die Politik gegen diese Probleme unternehmen?

Bei Wohnungsnot ist es klar: Forcierung des sozialen Wohnungsbaus. Ganz Tenever war sozialer Wohnungsbau, und dann wurde das von einem zum nächsten Investor verschachert. Es war wirklich heruntergekommen. Die öffentliche Hand hat dann auf Druck der Bürger mit Unterstützung des Quartiersmanagements ein großes Sanierungsprogramm aufgelegt, 100 Millionen investiert, um das Ganze wieder in Gang zu bringen. Jetzt erkennt man den sozialen Brennpunkt nicht mehr, da es gepflegt ist. Armut ist also nicht mit Wohnen unter beschissenen Bedingungen gleichzusetzen.

Und bei Arbeitslosigkeit?

Hohe Arbeitslosigkeit, Spitzenreiter bei Minijobs und Leiharbeit: Warum Bremen davon besonders betroffen ist, diskutiert taz.meinland am 16. August vor Ort.

Das ist schwieriger. Der Schlüssel ist Bildung und Qualifizierung. Wir brauchen die besten Schulen in den benachteiligten Quartieren. Außerdem werden wir keine Vollbeschäftigung in Bremen kriegen, weil es keine Arbeitsbereiche für Geringqualifizierte mehr gibt. In Hemelingen hat Mercedes das größte Werk der Welt, da sind solche Arbeitsplätze Mangelware. Hier muss der Staat einspringen. Er muss für Geringqualifizierte etwas anbieten: einen dritten Arbeitsmarkt, also einen öffentlich finanzierten Beschäftigungssektor. Denn Arbeit ist wichtig für das Selbstwertgefühl der Menschen.

Wie wird sich die soziale Situa­tion in Bremen entwickeln?

Manchmal denke ich, dass ich darüber gar nicht nachdenken möchte. Bremen hat kaum Spielraum, auch aufgrund der Schuldenbremse. Für die genannten Ideen gibt es hier kein Geld. Aber man kann sich dieses Auseinanderdriften dauerhaft nicht leisten. Wissen Sie, was mir Hoffnung gegeben hat? So weltoffen wie bei der „Flüchtlingskrise“ hätte ich dieses Land nicht eingeschätzt. Die Gesellschaft ist nicht ignorant, ihr ist es nicht egal, wenn es anderen schlecht geht. Deswegen kriegen wir das schon hin.

Das Interview führte ANNIKA MARETZKI, Redakteurin taz.meinland