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Archiv-Artikel

Peppino im Inferno

Das Ende der „Familie“: Marco Tullio Giordanos „100 Schritte“ ist ein tief bewegendes Spielfilmplädoyer gegen Mafia und Machotum

von BARBARA SCHWEIZERHOF

Am Ende wird Peppino zu Grabe getragen. Der Film stellt die historischen Ereignisse nach: wie der Trauermarsch zur Demonstration gegen Korruption und Mafia gerät, wie die Mutter mit versteinertem Gesicht in der ersten Reihe läuft, am Arm des Bruders, der trotzig seine linke Faust in die Höhe streckt. Der Soundtrack spielt dazu Procol Harum: „We skipped the light Fandango …“ Da ist es schwer, nicht zu weinen.

Ziemlich überwältigt von der eigenen Rührung hörte ich zum ersten Mal die Bach-Kantate heraus, von der „A Whiter Shade of Pale“ inspiriert ist: diese besondere melodiöse Heiterkeit, die nahtlos in tiefe Trauer übergeht. Als Letztes zeigt der Film ein paar Fotos des echten Giuseppe „Peppino“ Impastato, den die Mafia am 9. Mai 1978 ermordet hat. Er war 30 Jahre alt. „And although my eyes were open, they might just as well’ve been closed“, singen Procol Harum. Auf einmal wollte ich Peppino besser kennen lernen; ich musste den Film noch mal von vorne sehen.

Erst bei der zweiten Sichtung, mit dem Ende im Kopf, fiel mir auf, wie nachdrücklich und doch diskret der Film sein Thema verfolgt. Zu Beginn trägt der zehnjährige Peppino ein Gedicht bei einer Hochzeitsgesellschaft vor. Ängstlich spricht die Mutter die schwierigen Stellen leise mit. Er selbst jedoch steigert sich mit einer Leidenschaft in die komplizierten Verse hinein, die selbst diejenigen mitreißt, die nichts für Poesie übrig haben. Später wird er als Radiosprecher mit derselben Überzeugungskraft sogar seine Feinde an die Empfänger fesseln. Eine der schönsten Stellen in „100 Schritte“ ist, wie er Dantes „Göttliche Komödie“ umdichtet und als „Mafiopoli“ die eigene Stadt, Cisini auf Sizilien, als Station des Infernos beschreibt. Die Männer beim Barbier, die Frauen zu Hause und eben auch die beschimpften Mafiosi lauschen gebannt. Sein Vater, selbst ein Mafiosi, muss dringend etwas unternehmen.

In der ersten Szene ist der Vater noch sehr stolz auf seinen kleinen Sohn. Die Hochzeitsgesellschaft sieht nach normaler Durchschnittsfamilie aus. Haben nicht alle Familien bereits etwas Mafiöses an sich? Als Lieblingsneffe darf Peppino auf den Knien des Onkels Auto fahren. Der wird kurz darauf ermordet.

Peppino, das begabte Kind, geht zu dem Mann hin, von dem er sicher weiß, dass er ein Feind des Onkels war: zum Kommunisten. Ihn fragt er: Hast du meinen Onkel getötet? Der Kommunist antwortet ehrlich: Der Onkel sei von den eigenen Leuten ermordet worden. Der Junge interessiert sich für die Porträts, die der Kommunist malt. Eines davon zeigt „den Genossen Majakowski“. Über den will er alles erfahren. So beginnt die Entfremdung von der eigenen Familie. Die Liebe zur Dichtung, so ließe sich aus dem Film schließen, führt zu mangelndem Respekt vor Sprachtabus – wie dem, das Wort Mafia nicht in den Mund zu nehmen. Der jugendliche Peppino schreit es vor dem Haus des Obermafiosi heraus – das 100 Schritte entfernt ist von dem seines Vaters. Die Mafia ist ein Zusammenhang, der nicht benannt werden darf, es sei denn als „Familie“. Wer gegen die Mafia auftritt, wird zwangsläufig zum „Nestbeschmutzer“.

Der größte Teil von „100 Schritte“ spielt im Retrolook der 60er und 70er. Die Anti-Mafia-Bewegung, die Peppino gründet, reiht sich nahtlos ein in die Protestbewegungen der Zeit, in denen immer wieder Söhne gegen die Verstrickung der Väter aufbegehren. Anders als in vielen Filmen über die Ära darf hier auch der Vater seine Kränkung darstellen, als sein Sohn sich gegen ihn stellt und ihn nicht „ehrt“. Er schmeißt ihn aus dem Haus und kämpft gleichzeitig still und verzweifelt darum, ihn vor seinem Mafiaboss zu schützen.

„Peppino, dieser Verrückte, er war einer von uns“, sagt ein Cousin aus Amerika an Peppinos Sarg. Eisig versetzt die Mutter: „Nein, er war keiner von euch!“ Die Fotos des echten Peppino zeigen das ganz deutlich. Man kann nach diesem Film das übliche Macho-Mafiatum im Kino für eine Weile nicht mehr ertragen.

„100 Schritte“. Regie: Marco Tullio Giordano. Mit Luigi Lo Cascio, Luigi Maria Burruano u. a. Italien 2000, 104 Min.