: Patientenschmerzen
Ärzte dachten immer schon viel über die Ethik und ihr Honorar nach. Der Historiker Klaus Bergdolt beleuchtet anschaulich und hintergründig das „Gewissen der Medizin“ von Hippokrates bis heute
VON CHRISTIAN WEYMAYR
Gabriele Zerbi, Medizinprofessor in Padua, fand ein tragisches Ende. Er soll um 1500 in der Türkei ermordet worden sein, weil er einen Pascha nicht heilen konnte. Zuvor aber hatte er einen Verhaltenskodex für Ärzte geschaffen, der weit über seinen Tod hinaus Beachtung fand. Ein Arzt müsse sich, so Zerbi, die Zuneigung seines Patienten durch solide Fachkenntnisse, ständige Weiterbildung und einen vorbildlichen, fast priesterlichen Lebenswandel erwerben. Ein guter Arzt neide, schmeichle, streite und lüge nicht und spreche nur das Nötigste. Bei einem Gastmahl halte er sich zurück, vor allem beim Wein. Gesänge und derbe Unterhaltung meide er ebenso wie Prostituierte, Mörder und zweideutiges Gesindel. Sein Auftritt sei voller Würde, sein Urteil gerecht. Und niemals nehme er öffentliche Ämter an, „denn hier liegt der Keim zur Vernachlässigung seines Berufs“.
Zerbi ist kein hoffnungsloser Moralist, wie Klaus Bergdolt in seinem Buch „Das Gewissen der Medizin“ zeigt. Der Gelehrte aus Padua repräsentiert vielmehr ein medizinisches Ethos, das Ärzte im abendländischen Kulturkreis von der Antike bis heute immer wieder fordern. Das Gewissen der Medizin folgte keiner stetig ansteigenden, sondern einer wellenförmigen Bewegung, wobei jeweils politische Umwälzungen, Seuchen und Erkenntnisschübe neue Wellen aufwarfen. Und schließlich: Die Beschäftigung mit der Geschichte sensibilisiert gegenüber allzu glatte Lösungen.
Zeiten, in denen das Wohl des Staates im Vordergrund stand, gab es immer wieder: in der Antike, in der Zeit der Aufklärung, ab Mitte des 19. Jahrhunderts und während des Dritten Reichs. So wollte der „Rassenkundler“ Alfred Ploetz, ein bis in die Nazizeit umjubelter Erfolgsautor, gar den Brauch aus dem alten Sparta wiederbeleben, wonach Kommissionen über das Lebensrecht jedes einzelnen Neugeborenen entscheiden sollten. Sterbehilfe (Euthanasie), Zucht und Auslese (Eugenik), Volksgesundheit, Menschen- und Tierversuche wurden in diesen Epochen mit atemberaubender Direktheit diskutiert – und nicht nur im Dritten Reich mit unfassbarer Brutalität vorangetrieben.
Zu anderen Zeiten rückte wieder der Einzelne, das bemitleidenswerte, kranke Individuum, in den Mittelpunkt. Die christliche Nächstenliebe fungierte hier über die Jahrhunderte als eine Art moralische Konstante. Auch Zerbi forderte: Der Arzt sei ein „beflissener Diener und Helfer“ des Patienten, dem er mehr durch das „Band des Mitleids“ als durch die „Gnade des zu erhaltenden Honorars“ verbunden sei. Patientinnen betrachte der Arzt ohne Anzüglichkeit, „um nicht die Flamme der Begierde zu entzünden“. Allerdings dürfe er auch seine eigenen Interessen im Auge behalten: Vor der Behandlung unordentlicher, unzuverlässiger und widerspenstiger Kranker solle er sich hüten – und vor Todkranken. „Der Arzt fliehe, soweit es geht, Patienten, die im Sterben liegen, und unternehme an denen, die an der Schwelle zum Tod stehen, nichts mehr, damit man nicht, wenn jemand daraufhin stirbt, sagt, er habe ihn umgebracht.“ Eine aussichtslose Therapie bringe den Arzt zudem in den Verdacht von Maßlosigkeit, Selbstüberschätzung und Geldgier.
In seinem Buch arbeitet Bergdolt nicht nur die großen Trends heraus, er lässt auch Mahner und Zweifler zu Wort kommen. Als etwa der Züricher Geistliche Johann Caspar Lavater ganz im Geiste der Aufklärung seine Studien über Rassenmerkmale veröffentlichte, hielt ihm Georg Christoph Lichtenberg entgegen: „Wenn die Physiognomie das wird, was Lavater von ihr erwartet, so wird man die Kinder aufhängen, ehe sie die Taten begangen haben, die den Galgen verdienen.“ Den Leser mit solchen Widersprüchen zu konfrontieren, ist angemessen, aber mutig, weil Bergdolt so der wissenschaftlichen Genauigkeit zuliebe auf thesenhafte Griffigkeit verzichtet.
Außerhalb der Strömungen und Gegenströmungen bewegen sich, wie Bergdolt zeigt, solche Themen, die eher eine Sache der persönlichen Einstellung sind: Soll man dem Patienten über seinen schlimmen Zustand reinen Wein einschenken? Oder auch: Wie soll man sich seine Dienste honorieren lassen? Die meisten, aber nicht alle, plädieren für eine vermögensabhängige Bezahlung. Zerbi rät, man solle sein Honorar einfordern, „solange der Patient Schmerzen hat“, denn zu diesem Zeitpunkt sei seine Dankbarkeit am größten.
Eine wirkliche Neuerung im Ethos der Medizin gibt es doch: Der Gedanke der Patientenautonomie ist eine Errungenschaft der letzten 50 Jahre. Niemals zuvor kamen Ärzte auf den Gedanken, ihre Patienten in die Therapieentscheidungen einzubeziehen und ihren väterlich-fürsorglichen Paternalismus in Frage zu stellen. Höchstens bei der Frage der Sterbehilfe gestanden die meisten, wenngleich nicht alle Ärzte dem Betroffenen ein Mitspracherecht zu.
In seinem Vorwort kritisiert Bergdolt zu Recht, dass in den gegenwärtigen Debatten kaum geschichtliche Aspekte berücksichtigt werden. Daher ist es bedauerlich, dass er selbst nicht explizit auf Parallelen zum heutigen Medizinalltag hinweist. Schließlich fragten sich Ärzte zu allen Zeiten, ob sie Todkranke behandeln sollen. Warum kann der medizinische Fortschritt Ärzte heute dazu verführen, den Tod mit allen technischen Mitteln hinauszuschieben – koste es, was es wolle, selbst die Würde des Patienten?
Auch wird immer wieder die Verantwortung des Einzelnen für seine Gesundheit thematisiert, was beispielsweise Ende des 17. Jahrhunderts zur Einsetzung einer „vollständigen medicinischen Polizey“ führte mit dem Ziel, das Volk umzuerziehen. Wiederholen wir derzeit diese Entwicklung, wenn die „richtige“ Lebensführung schon in Kindergärten propagiert und Prävention als vierte Säule im Gesundheitswesen etabliert wird?
Was also könnten wir konkret aus der Geschichte lernen? Auch wenn Bergdolt diese Frage nicht beantwortet, liefert er doch das notwendige Material, um sich selbst ein Urteil zu bilden. „Das Gewissen der Medizin“ ist ein verständlich geschriebenes Sachbuch, das dem Leser Informationen auf höchstem wissenschaftlichem Niveau bietet.
Klaus Bergdolt: „Das Gewissen der Medizin. Ärztliche Moral von der Antike bis heute“. C. H. Beck, München 2004, 384 Seiten, 29,90 Euro