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PatatazAlles verboten, auch singen und feiern

Ausgangssperren sind von gestern. Die türkische Polizei nicht. Deshalb setzt sie auf neue Methoden. Eingangssperre heißt die neueste Blüte in der türkischen Verbotskultur.

“Gilt die Eingangssperre auch für Straßenkatzen?“ Foto: Murat Bay

Die im Ankaras Herzen liegende Yüksel Caddesi, “Straße der Erhabenheit“, ist in letzter Zeit Austragungsort eines Protests und deren komödienhaften Auswüchsen. Bis vor kurzem war die Straße der Widerstandsort von Nuriye Gülmen und Semih Özakça und bot Demonstrant*innen und Anwohner*innen, die sich mit den Hungerstreikenden solidarisierten, eine Art Heimat. Seit letzter Woche ist der Platz vor dem Denkmal der Menschenrechte, einer lesenden Frau in Stein, fast leer.

Jeden Tag werden die übriggebliebenen Unterstützer*innen von Nuriye Gülmen und Semih Özakca in Polizeigewahrsam genommen, und jeden Abend werden sie erneut entlassen. Um am nächsten Tag erneut festgenommen zu werden. Die Anwohner*innen der Yüksel Caddesi, Zeug*innen des gesamten Wahnsinns, fragen sich, was sie wohl als Nächstes erwartet.

Polizeigewahrsam für alle(s)

Am 17. Mai, dem 70. Tag des Hungerstreiks (von Nuriye Gülmen und Semih Özakca) wurden neben den Mitprotesttierenden auch die Blumengeschenke für die beiden beschlagnahmt. Die Blumen lagen vor den Füßen des Menschenrechtsmahnmals. Bevor es ein paar Tage später hinter den Barrikaden verschwand, die die Polizei um die Skulptur herum aufstellte.

Hayri Demir

fing 2012 als Journalist bei der Nachrichtenagentur Dicle Haber Ajansi an. Arbeitete mehrere Jahre in den kurdischen Gebieten. Momentan als politischer Korrespondent in Ankara tätig.

Zuletzt sperrte die Polizei die gesamte Straße. Ab dem 23. Mai hieß es für die Anwohner*innen der Yüksel Caddesi: keine Ausgangssperre, sondern eine Eingangssperre für ihre Straße. Insgesamt führen drei weitere Straßen hierhin, an den Kreuzungen wurden Kontrollpunkte der Polizei errichtet und mit Panzerfahrzeugen und Barrikaden gesperrt.

Niemand darf rein, auch nicht zum shoppen

Passanten wussten von der Sperre erst, als sie an den Kontrollpunkten erfuhren, dass sie nicht durchgehen dürfen. Besonders die Ladenbesitzer von über Hundert Läden sind von der Straßensperre betroffen. Den Ladenbesitzer*innen wird morgens kurz erlaubt ihr Geschäft zu öffnen, um nachzuschauen ob über Nacht eingebrochen wurde. Die Händler*innen verdient seit der Straßensperre nichts. Ihre potenziellen Kunden bleiben wegen der Sperre weg.

Nedim Kamir Sarı hat seinen Laden seit 15 Jahren auf einer der drei gesperrten Straßen. “Was soll die Eingangssperre?“ fragt Sarı, aber die Frage kann auch die Polizei nicht beantworten. Die Händler*innen verlangen eine offizielle Begründung für die Absperrung ihrer Straße. Bisher hat keiner eine solche schriftliche Begründung erhalten. Ausgangssperren kennt man hin und wieder aus der Vergangenheit in der Türkei, sowie aus der aktuellen Praxis in den kurdischen Städten. Aber diese – bisher einmalige – Eingangssperre wird wohl in die Annalen des Landes eingehen.

Geburtstagsfeier gestürmt

Durchschnittlich beschäftigt jeder Laden vier bis fünf Angestellte, die ebenfalls von der Eingangssperre betroffen sind. Einer dieser Angestellten stellt sich an die Barrikaden und fragt den diensthabenden Polizisten, ob er ihm für den Ausfall seines Tageslohns 50 Türkische Lira, etwa 13 Euro, leihen könne. Er könne ihm die Leihgabe ja nach der Straßensperrung wiedergeben.

Am dritten Tag der Absperrung des Straßenzugs stürmt die Polizei fast eine Geburtstagsfeier in einem Café, weil sie lautes Jubeln und Händeklatschen hört. Nun überlegen sich die Anwohner*innen es besonders gut, ob sie sich in ein Café setzen.

Neue Dimensionen der Verbotskultur

Auf einer der nicht gesperrten Straßen stellen die Besitzer*innen als Protest ihre Tische auf die Straße. Kurz darauf gibt die Polizei durch: “Sie blockieren den Fußweg für die Passanten, stellen sie sofort die Tische ab“ und der Protest wird rasch beendet.

Nedim Kamir Sarı erzählt von einem Verlust von 10.000 bis 12.000 Türkische Lira, umgerechnet etwa 2.500 Euro während der Eingangssperre. Seine neun Angestellten erhielten in dieser Zeit keinen Lohn. Die Ladenbesitzer*innen sammeln Unterschriften mit der Absicht, sich mit der Petition an die höchste Instanz in der Stadtverwaltung, den Gouverneur, zu wenden. Sie überlegen auch, wie die beiden Pädagogen Nuriye Gülmen und Semih Özakça in den Hungerstreik zu gehen, wenn die Eingangssperre nicht aufgehoben wird.

Singen nach Sonnenuntergang verboten

Die Abgeordneten der größten Oppositionspartei CHP, seit dem ersten Tag der Eingangssperre vor Ort, werden nicht auf die Straße gelassen. Der Abgeordnete Necati Yılmaz findet, dass die “Verbotskultur“ der Türkei mit der Eingangssperre einen neuen Begriff erlangt hat. “Gilt die Eingangssperre auch für Straßenkatzen?“ fragt eine Anwohnerin den Polizisten an der Barrikade.

Während die Ladenbetreiber*innen und Anwohner*innen mit der Aufhebung der Sperre rechneten, teilte der Gouverneur von Ankara der Presse mit, dass ab sofort in der gesamten Stadt das Singen und Feuermachen aus Gründen der Sicherheit nach Sonnenuntergang untersagt werden. Dann, am 27. Mai, werden die Sperren wieder aufgehoben, auf der Yüksel Caddesi bleibt die Lage dennoch angespannt. Denn täglich gehen die übriggebliebenen Demonstrant*innen auf die Straße, und täglich werden sie in Gewahrsam genommen. Und am nächsten Morgen geht es wieder von vorne los.

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