Parteienallmacht: Klappe halten

Warum werden die frei gewählten Bundestagsabgeordneten bei der Regierungsbildung ausgeschaltet?

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Von UDO KNAPP

Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Grundgesetz, Artikel 21, Satz 1

Warum nimmt der Bundestag seine Arbeit nicht auf? Die gewählten Mehrheiten im Bundestag zwingen zu Koalitionsverhandlungen, das ist klar. Rot-Grün-Gelb oder Schwarz-Grün-Gelb und auch die gute alte Koalition aus SPD und Union sind möglich. Aber die Bundestagsfraktionen haben sich konstituiert und ihre Vorsitzenden gewählt. Der Bundestag könnte sofort loslegen. Doch mehr als Klatschgeschichten über die neuen, die jungen oder die weiblichen Angeordneten und ihre ersten Tage in Berlin sind nicht zu hören.

Das Parlament, der alleinige und allmächtige Souverän im repräsentativen Verfassungsstaat, das zentrale Machtorgan für die Gesetzgebung, hat vorerst auf stumm geschaltet. Die Initiative für die Regierungsbildung liegt weitestgehend in der Hand der Vorstände jener Parteien, die an einer möglichen Regierung beteiligt sind. Jede Partei hat größere oder kleinere Kommissionen berufen, in denen einige gewählte Abgeordnete zwar mitarbeiten dürfen, aber nicht die Mehrheit stellen. Diese Partei-Kommissionen sondieren, das bedeutet, sie reden in immer neuen Runden darüber, ob die Beteiligten so viel mentale Übereinstimmungen untereinander finden, dass sich ernsthafte Koalitionsverhandlungen überhaupt lohnen. Über alle diese Gespräche ist inhaltliches Stillschweigen vereinbart worden. Leere Worthülsen vom historischen, notwendigen Neustart und ähnliche Floskeln bestimmen die öffentlichen Stellungnahmen der Beteiligten. Grünen-Chef Robert Habeck mahnt sogar drohend „Klappe halten“ und verschwindet dann, wie seine Mitsondierer, lächelnd hinter verschlossenen Türen, um einen Tag später nachdenklich den Kopf schüttelnd mitzuteilen, dass es in vielen Punkten große Differenzen gäbe. Mehr aber nicht.

Die Regierungsbildung kann noch bis Weihnachten dauern

Mal angenommen, SPD, Grüne und FDP mögen sich so sehr, dass sie es miteinander versuchen wollen, dann beginnen in einigen Wochen die Koalitionsverhandlungen. Wie lange sie dauern und ob sie überhaupt gelingen werden, das weiß niemand so genau.

Mal angenommen, die drei einigen sich auf einen Koalitionsvertrag, dann haben alle drei schon angekündigt, dass sie den Vertrag und bei einer Partei sogar die Besetzung der Ministerien nicht nur durch ihre Parteigremien, sondern sogar noch bei ihrer gesamten Parteimitgliedschaft zur Abstimmung stellen wollen.

Mal angenommen, die „Basis“ aller drei Partien billigt den Vertrag, dann kommt erst nach all dem der Bundestag ins Spiel. Der Abgeordnete stimmt dann nicht mehr über den ausgehandelten Koalitionsvertrag ab, sondern er folgt der Vorgabe des Koalitionsvertrages und wählt die neue Regierung. Nach Aussagen aus den beteiligten Parteien kann dieser Prozess der Regierungsbildung bis Weihnachten dauern.

Jeder der einzelnen Abgeordneten des Bundestages ist ein frei gewählter Vertreter des ganzen Volkes. Sein Mandat, auch wenn er es über eine Partei und mit einer Partei gewonnen hat und in der entsprechenden Fraktion mitarbeitet, ist ein freies Mandat, kein Parteimandat. Der Abgeordnete ist nur seinem Gewissen, seiner Urteilskraft und den Gesetzen verpflichtet. Einen formalen Fraktionszwang für das Verhalten des Abgeordneten bei Abstimmungen gibt es nicht. Es ist ihm sogar untersagt, seine Mandatsaufgaben mit Parteiaufgaben zu vermischen. Ebenso darf keine Partei ihre Abgeordneten dazu zwingen, mit ihren Diäten oder anderen Mitteln aus der politischen Arbeit des Bundestages Parteiarbeit zu finanzieren. Nur in dieser strikten Ausgestaltung des Abgeordneten-Mandates kann die demokratische Repräsentation der Interessen des ganzen Volkes gelingen.

Freie Abgeordnete werden zu gebundenen Parteiarbeitern

Es ist vor diesem Hintergrund nicht falsch, festzustellen, dass die nächste Bundesregierung nicht von den frei gewählten Abgeordneten bestimmt wird. Sie wird von den Parteispitzen der miteinander mehrheitsfähigen Parteien nach Absprachen außerhalb des Parlamentes ins Amt gehoben. Kein Abgeordneter hat, bei Strafe völliger politischer Isolierung, eine Chance, sich dem Vorschlag seiner Parteioberen zu widersetzen und damit seinen Verfassungsauftrag zu erfüllen.

Gegenüber dem Wähler überdehnt dieses Vorgehen das vom Grundgesetz vorgegebene Gebot der Mitwirkung der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes. Es macht aus dem freien Abgeordneten einen gebundenen Parteiarbeiter. Dieses Vorgehen trägt wesentlich dazu bei, die Politikverdrossenheit bei vielen Bürgern und die Ablehnung demokratischer Prozeduren insgesamt zugunsten offen populistischer Strömungen und Bewegungen zu verstärken.

Sicher ist es nicht möglich, alle politischen Fragen und gerade Fragen der Kompromissbildung coram publico oder zumindest offen im Bundestag zu erörtern und abzuhandeln. Allerdings hat der Wähler, der seine ganze Macht seinem Abgeordneten überträgt, einen berechtigten Anspruch darauf, zu erfahren, was sich beim Regierungsbilden abspielt, was da ausbaldowert wird.

Denn die neue Regierung, auch wenn sie eine Koalitionsregierung sein wird, braucht die langfristige Zustimmung im Volk bei der Bearbeitung der anstehenden Jahrhundertfragen. Dieses Grundvertrauen ins demokratische Herrschaftssystem, die Bereitschaft, den Wandel guten Gewissens mitzutragen, werden die Parteien und ihre Regierung nicht gewinnen, wenn sie die Abgeordneten zu „Abstimmungshanseln“ für Beschlussvorlagen der Parteioberen degradieren. Mal ganz abgesehen davon, dass die Medien als potentiell „Vierte Gewalt“ dazu gezwungen werden, monatelang herum zu spionieren und wild zu spekulieren.

UDO KNAPP ist Politologe und schreibt regelmäßig Kommentare für taz FUTURZWEI.

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