piwik no script img

Paradigmenwechsel an Schulen gefordertAuf Trauma folgt Aggression

Pisa sei viel zu leistungsorientiert, kritisieren Sozialpsychologen. Kreativität, Selbstständigkeit und die soziale Kompetenz werden in Schulen vernachlässigt.

"Die Zukunft gehört Menschen, die flexibel denken, Konflikte lösen und im Team arbeiten können: kreativ, selbständig und interaktiv." Bild: dpa

taz: Frau Ittel, Herr Noam, der Pisa-Test zur Leistungsmessung reicht Ihnen nicht. Sie fordern einen psychoemotionalen Pisa-Test für die Schule. Was soll das bringen?

Gil Gabriel Noam: Es gibt einen allgemeinen Konsens, dass Pisa allein nur leistungsorientiert ist. Wir müssen uns aber anschauen, was die Voraussetzungen sind, um Jugendlichen zu helfen, erfolgreich in der Schule und im Berufsleben zu sein. Wir müssen wissen und untersuchen, was überhaupt die Grundlagen sind, um Erfolg zu haben. Denn was gemessen wird - siehe Pisa -, wird ernst genommen und finanziert. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel.

Wie soll der aussehen?

Gil Gabriel Noam: Die Zukunft gehört Menschen, die flexibel denken, Konflikte lösen und im Team arbeiten können: kreativ, selbständig und interaktiv. Mit sozialer und emotionaler Kompetenz. Das ist das neue Wissen. Es ist auch ein Aspekt der Demokratisierung. In Amerika nennt man das die 21 Century Skills. Das sind Fähigkeiten, die bei Pisa nicht gemessen werden, aber wahnsinnig wichtig sind. Das sind auch die Fähigkeiten, die von den Wirtschaftseliten eingefordert werden. Sie sagen, wir bekommen nicht die Leute, die wir brauchen. Eine Intelligenzökonomie braucht eine andere Form von Lernen.

Was sind das für Fähigkeiten?

Gil Gabriel Noam: Ganz kurz: kreativer Umgang und flexible Lösungen von Problemen, Anpassungsfähigkeit an neue Situationen, die Fähigkeit, sich auf andere und auf neue Funktionen in Lerngruppen zu beziehen, autonomes Denken.

Welche Rolle spielt dabei Ihr Forschungsgebiet Aggression?

Angela Ittel: Aggression steht im Gegensatz zu diesen flexiblen Fähigkeiten und selbstwirksamen Lösungen. Aggression kommt auf, wenn andere Lösungen nicht zur Verfügung stehen oder scheitern. Das offenere Lernen, das wir propagieren, soll helfen, Strategien an die Hand zu geben, wie man Konflikte lösen kann, ohne aggressiv zu reagieren. Das Ziel ist: weniger Aggressionen und vor allem weniger Apathie. Damit Hilflosigkeit durch Kompetenz und Selbstwirksamkeit überwunden wird. Es ist wichtig, selber etwas zu bewegen.

Darüber werden sich Lehrer in Problembezirken freuen. Wie soll das in der Praxis aussehen?

Gil Gabriel Noam: Wenn man eine Schule will, die weniger aggressiv ist, dann muss man eine aktive Politik betreiben und ein Klima an der Schule schaffen, das nicht aggressiv ist. Dann kann man keine Lehrer haben, die die Kinder anschreien, keine Situation, wo der Schulleiter nicht zuhört. Das sind alles Auslöser von Aggression in der Kommunikation.

Und strukturell?

Gil Gabriel Noam: Es ist die Idee der Ganztagsschule, die gleichzeitig unterschiedliches Lernen mit einbezieht, Bindungen schafft und Aggression nicht toleriert. Es ist die Utopie Schule. Wichtig ist, nicht einfach nur die Schulzeit zu verlängern, sondern diese Zeit zu nutzen, um kreatives Lernen zu fördern. Dies hilft vor allem Jugendlichen, die mit der Paukschule schwer umgehen können. Das heißt, man gibt ihnen Raum mit Sport, Kunst, Musik. Inhalte, die in der Pisa-Logik an den Rand geschoben werden. Damit schiebt man nicht nur diese Fächer an den Rand, sondern auch viele Jugendliche, denen dieser Unterricht hilft.

Aber Lehrer sind keine Sozialarbeiter oder Psychologen.

Angela Ittel: Man braucht mehr Sozialarbeiter und Psychologen an der Schule, damit man früher erkennt, was die Jugendlichen brauchen. In Deutschland tut man sich schwer, solche Neuerung an den Schulen einzuführen. Unsere Schulen sehen sich vor allem als Leistungsvermittler. Der Fokus auf Selbstwert und soziale Kompetenz hat in den USA mehr Tradition. Bei uns wird das sehr schnell als Kuschelpädagogik abgetan. Wir arbeiten in meinem Arbeitsbereich an der TU Berlin viel zu der Bedeutung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses. Wenn man darüber spricht, heißt es sehr häufig von Kollegen, dass das doch gar nicht so relevant sei.

Wenn Schule diese Kompetenzen fördern soll, müssen dann Schulen in Problembezirken nicht ganz anders unterstützt werden?

Angela Ittel: Die soziale Schichtzugehörigkeit spielt bei Aggression nicht so eine gravierende Rolle, wie das die Medien gerne hätten. Tatsächlich verschwindet in den Extremgruppen - also die Gruppen, die besonders aggressiv sind - die Bedeutung der sozialen Schicht.

Sie meinen, je aggressiver, umso weniger spielt die Schichtzugehörigkeit eine Rolle?

Angela Ittel: Genau. Und wenn wir jetzt herausfinden, dass Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Schichten mehr Förderung brauchen, dann ist es nichts Negatives. Im Gegenteil. Dann es geht darum, wie wir richtig fördern.

Gil Gabriel Noam: Es ist der Kampf darum, wie man die Zeit in der Schule nutzt. Will man sie nur zur Leistungssteigerung verwenden, dann laufen die sozialen Aspekte nur nebenher. Oder man gibt diesen Bedeutung. Das wäre nicht nur für Kreuzberger Schulen wichtig, denn die Risikofaktoren für Aggressivität gehen durch alle Schichten.

Welche Faktoren meinen Sie?

Gil Gabriel Noam: Scheidung; Eltern, die dauernd arbeiten; wenig Zeit für die Kinder; Wohlstandsverwahrlosung; Drogen. Man muss Aggression im Umfeld untersuchen. Da kommt man sehr schnell auf traumatische Erfahrungen. Die typische Antwort auf Trauma ist Aggression. Natürlich ist die auch klassenspezifisch: Ein gewalttätiges Umfeld produziert Gewalt. Aber es gibt eine Traumatisierung, die die ganze Gesellschaft mit einbezieht. Sexueller Missbrauch zum Beispiel ist kein Armutsdelikt.

Und nun soll die Schule all das auffangen?

Gil Gabriel Noam: Zu den Aufgaben der Schule in einer Demokratie gehört auch, den Prozess der Integration mit herzustellen.

Das muss aber auch finanziert werden.

Gil Gabriel Noam: Genau. Deswegen ist es wichtig, Modellversuche zu finanzieren, um zu zeigen, was es kostet, eine neue Schule zu machen. Denn es fragt sich, ob eine Schule, die solche psychoemotionale Kompetenz miteinbezieht, wirklich teurer ist als eine Schule, die gewaltige gesellschaftliche Kosten und Konflikte nicht im Blick hat.

Sehen Sie konkrete Ansätze zu dieser neuen Schule?

Angela Ittel: Wenig. Es geht in den Schulen genau in die entgegengesetzte Richtung. Es wird immer mehr ausdifferenziert, um bessere Fachleistungen zu bekommen. Motiviertes Lernen findet allenfalls in einer Projektwoche statt. Ansonsten wird häufig auf Leistung getrimmt.

Wie sieht es in den USA aus?

Gil Gabriel Noam: In Amerika hat man über viele Generationen die schwarzen Kinder ausgeschlossen, und zwar weil es akzeptiert war, dass diese Kinder nichts leisten. Das hat sich nun verändert. Denn wenn es Erfolge in einer Schule gibt, müssen die anderen zeigen, warum es bei ihnen unter den gleichen Bedingungen nicht funktioniert.Und es hat sich in Modellversuchen gezeigt: man kann nur Leistung erwarten, wenn man gleichzeitig starke Unterstützung gibt. Diese Unterstützung soll nun unter Obama ausgebaut werden. Und dann kommt man sehr schnell in den psychosozialen Bereich. Darauf wird inzwischen in den USA viel mehr Wert gelegt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

5 Kommentare

 / 
  • H
    hto

    Um es den Anhängern der Bildung zu Suppenkaspermentalität auf Sündenbocksuche mit ihrer Medizin zu verdeutlichen: "Zorn ist sinnvoller als Verzweiflung. Grundlagen der Psychologie gehören zu meinen Subroutinen." (Terminator 3) ;-)

  • DV
    der Volksverblödungspolitik

    Wieso ständig der Blick auf die VSA? Das Bildungssystem der Amis ist ruiniert! Die meisten Erstsemestler an deren Unis haben ein Bildungsniveau, das bei uns vor 20 Jahren nicht für den Hauptschulabschluss gereicht hätte. Universitätsprofessoren drüben kotzt das an. Wer es nicht glaubt, sollte sich den Laden einmal genau anschauen.

     

    Es gibt noch andere Länder außer den VSA. China, Dänemark, Finnland, Frankreich, Japan, oder vielleicht sogar die Zentralafrikanische Republik. Überall läßt sich etwas Positives finden. Was unsere Kinder nicht brauchen sind ahnungslose Bildungspolitiker, die den Amis in den Ihr-wisst-schon-was kriechen.

  • A
    anke

    Wieder einer, der "sozial schwach" sagt, wenn er einkommensschwach meint.

     

    Abgesehen davon erscheint es mir relativ blauäugig, ausgerechnet die Wirtschaftseliten zu Zeugen anzurufen für den dringenden Bedarf europäischer Schulen an sozialer Kompetenz. Wenn die Wirtschaftseliten nämlich sagen, sie bekämen nicht genügend kreatives, flexibles, anpassungsfähiges Personal, dann haben sie damit bisher noch jedes mal etwas ganz anderes gemeint als unsere Sozialpsychologen. Sie denken bei den Adjektiven kreative, flexibel und anpassungsfähig eher an Leute, die ihnen helfen ihre Blasen aufpumpen. Leistung, schließlich, hat in den Augen der Wirtschaftseliten mit sozialen Aspekten nur in so weit etwas zu tun, als ein gut bezahlter Verkaufsprofi seine Kunden ordentlich manipulieren können muss.

  • T
    Tanja

    "Der Fokus auf Selbstwert und soziale Kompetenz hat in den USA mehr Tradition."

     

    Deswegen gibt es wahrscheinlich in den USA auch noch die Prügelstrafe an Schulen. Soviel zum Selbstwert und zu sozialen Kompetenz in gewisser Schichten ;)

  • PD
    Pan Dora

    Unsere Zeit ist durch eine Zunahme struktureller psychischer und direkter Gewalt geprägt, die wir besonders Kinder und Jugendliche erfahren lassen. In vielen Regionen der Erde werden ihnen die grundlegenden Lebenschancen und Überlebenschancen entzogen, aber eben auch in den Industrieländern wird ihnen die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebensentwurfs bzw. einer eigenständigen Entwicklung zunehmend genommen.

     

    Betroffen von der Brutalisierung sind nicht nur Kinder in Ländern, in denen sie direkt und ihre Eltern unübersehbar ausgebeutet und versklavt oder dem Hungertod überlassen werden, sondern auch in den Regionen relativer Wohlhabenheit. Zunehmend werden Kinder und Jugendliche ausschliesslich auf die zukünftige Verwertbarkeit in den Prozessen wirtschaftlicher Interessen ausgerichtet. Zur Beurteilung von individuellen Entwicklungswegen werden in den Industrieländern standardisierte Maßstäbe herangezogen, die nicht dem Begreifen und der Förderung individueller Entwicklungen dienen, sondern der Selektion und Einpassung. Kindern und Menschen, die sich nicht in die Schablonen der vorgegebenen Standards einpassen lassen, auch nicht durch medikamentöse Behandlung, wird auch ein Zugang zu menschenwürdiger und erst recht mündiger Existenz versagt. War in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts bis in die frühen 80er Jahre der BRD noch eine ganze Generation Profiteure der libertinären Entwicklungen und des Bildungsversprechens, das durch die „68er“ ermöglicht worden war, beteiligt sich heute jene Generation an einer allgemeinen Versklavung ihrer Kindergeneration oder macht sich des widerspruchlosen Mitwisser- und Mitläufertums schuldig. Nicht mehr das Erziehungs- und Bildungsleitbild eines kritischen, eigenständig denkenden Menschen beherrscht die Köpfe bis in die „intellektuelle“ Öffentlichkeit hinein, sondern das des erfolgreichen Anpassers, der es im allgemeinen Konkurrenzkampf an die Spitze der Wettbewerber schafft. Hier werden Menschen mit Elitequalitäten vermutet.

     

    Mit Verachtung und versteckter Angst wird auf jene geblickt, die hierbei zurückbleiben oder straucheln oder dem Stress nicht gewachsen sind. Wir sprechen von Kinderrechten und glauben allein das Verbot physischer Gewalt Kindern gegenüber reiche dazu aus, wobei uns die Gewalt Kindern gegenüber außerhalb der Grenzen unseres Landes überhaupt nicht interessieren und täglich erfolgreich verdrängt werden. Wer letztlich die hochpolierten Steine für das Edelbad aus dem Steinbruch holt, davon möchten wir lieber nichts wissen.

     

    Mißtrauisch und mit Häme werden aber auch all jene beäugt, die andere Lebensentwürfe oder zumindest Ziele versuchen. Unsere Gesellschaft rüstet in jeder Hinsicht auf: Überwachung, Kriege, Feindbilder, Anpassungsdruck und nicht zuletzt Verschärfung der Gesetzgebung gegenüber Jugendlichen. In den Fokus öffentlichen Unverständnisses und Unmuts werden all jene gezerrt und auch gleich zum Feind der Gesellschaft, ja sogar als Verantwortliche für die Verwerfungen zementierter, sozialer Ungleichheit erklärt, die doch vor allem und offensichtlich als Opfer der Zustände angesehen werden müssen. Wir bewegen uns hierbei auf schon gekannte Zeiten hin. Nur wenige, wie der Regisseur Michael Haneke, mit seinem Film „das weisse Band“ widerstehen, dabei dem Mainstream. Was er in seinem Meisterwerk durch zwingende Bilder, ein herausragendes Buch und erstklassige Schauspieler herausarbeitet, lehrt uns zurecht das Fürchten – vor dem, was wir tagtäglich unwidersprochen zulassen. Schon jetzt fürchten die „braven“ Bürger, daß die heranwachsende Generation auf unheimliche Weise zurückschlagen wird – ihnen auf das verlogene und brutale Maul und daß sie ihnen die Illusion einer heilen Welt nehmen könnte. Und es mag sein, daß sie uns unsere Fühllosigkeit, Mitleidlosigkeit und unseren Zynismus eines Tages tatsächlich in gleicher Münze heimzahlen. Was wir versäumen ist kriminell und bereitet den Nährboden für Verbrechertum, es wäre ein Wunder wir wachten endlich auf und träten gemeinsam mit den kommenden Generationen für eine gerechtere und lebenswerte Welt ein.

     

    Immerhin die Studenten und Schüler sind schon wach.