PUTIN SETZT AUCH NACH DER KATASTROPHE IN BESLAN GANZ AUF ABLENKUNG : Kein lästiges Nachfragen
Im nordossetischen Beslan werden dieser Tage nicht nur die Opfer der Geiseltragödie beerdigt. Auch der Kreml betätigt sich mal wieder als Totengräber. Lästiges Nachfragen nach dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse sowie unangenehme Diskussionen über eine mögliche Mitschuld der Behörden an der Katastrophe möglichst schnell von der Tagesordnung absetzen, heißt die Devise. Dazu passt dann auch, dass Präsident Wladimir Putin eine öffentliche Untersuchung der Geschehnisse ablehnt. Das werde intern erledigt, ließ der Staatschef vernehmen. Man weiß schon jetzt – wie im Fall der Erstürmung des Moskauer Musical-Theaters vor zwei Jahren –, was dabei herauskommt: nichts oder allenfalls nur das, was auf der Linie von Russlands politischer Führung liegt.
Zu dem Putin’schen Ablenkungsmanöver gehört auch, dass nach dem komplett misslungenen Versuch einer Tschetschenisierung des Konfliktes in der Kaukasusrepublik nun die Zeichen auf Internationalisierung stehen: So vermag denn der Kremlchef auch überhaupt keinen Zusammenhang zu sehen zwischen der Geiselnahme in Beslan und dem barbarischen Krieg, den Moskau seit fünf Jahren in Tschetschenien führt. Russland – inklusive seiner Führung – ist eben ein unschuldiges Opfer des internationalen Terrorismus geworden. Der Logik dieser Lesart folgen denn auch die staatlich organisierten Anti-Terror-Aufmärsche der von Putin neu entdeckten Zivilgesellschaft.
Angesichts dieses Trauerspiels ist es zumindest ein kleiner Lichtblick, dass Frankreichs Regierungschef Jean-Pierre Raffarin – anders als seine von Solidarität salbadernden westlichen Amtskollegen – jetzt von Moskau mit Nachdruck genaue Informationen über den Verlauf des Geiseldramas verlangt und die Notwendigkeit anmahnt, die Menschenrechte zu respektieren. Diese Intervention dürfte beim Kreml zunächst nur wenig bewirken. Doch vielleicht ist sie ein erstes Signal an diejenigen Menschen in Russland, die für Aufklärung und demokratische Werte eintreten: Fundamentale Prinzipien werden nicht länger um den Preis politischer Opportunität geopfert. BARBARA OERTEL