PUDEL UND GOETHE : Richtige Alkoholiker
Die Männer, die so aussehen, als wären sie frustrierte Lehrer für Menschen, die sich gerade als Menschen entdecken, bestellen eine neue Runde. Die Tische stehen seitlich der Urbanstraße. „Also richtige Alkoholiker, da kannte ich einen, der hat nach 15 Weizen noch Schopenhauer zitiert, der war dünn wie ’ne Bohnenstange, hat dann eine Erziehungskur gemacht, äh, Entziehungskur, nicht geholfen, schwerer Alkoholiker, seine Frau konnte auch nichts machen.“ Wenn er jetzt Schopenhauer bringen müsse, was das Letzte sei, schaltet sich erregt der ein, der ein Base-Cap mit dem Schriftzug „Statetrooper“ trägt, möchte er sich nicht weiter unterhalten.
Der nächste Tag hat schon begonnen, zwei Uhr, ein leichter Wind von links, ich bin dazwischengeraten. Niemand möchte etwas dazu sagen. Einer reckt den Kopf nach hinten und schaut in den Himmel. Die anderen sehen nun auch nach oben. Langes Schweigen, einer räuspert sich, hustet dann heftig, zu viele Zigaretten, und sagt dann: „Der Job war scheiße, ich habe jeden Abend gesoffen, jeden, wirklich jeden.“ Keiner reagiert, der halbe Tisch kennt das. „Jeden!“, fängt er wieder an. Alle nicken. „Komme morgens ins Büro, ich hatte wirklich jeden Tag eine Fahne, und mein Kollege fragt, was ist das denn für ein Rasierwasser, und ich sage: Schultheiss!“ Er lacht schallend auf. „Und jetzt langweile ich mich, was soll ich den ganzen Tag auch machen, kacken, einkaufen, schlafen, nee, dit is pottlangweilig, kiekt ma!“ Er fuchtelt mit seinen Fingern in der Luft herum. „Großer Wagen, kenn ick, hier und hier Himmels-W!“
Eine Frau steht zwei Tische weiter und sagt: „Komm, mein Süßer, wir gehen jetzt nach Hause“, bückt sich und nimmt einen blendend-weißen Pudel auf den Arm. „Kenn ick“, ruft plötzlich einer der Männer, die bisher nichts sagten, „kenn ick vom Abitur, Pudel und Goethe, dit kenn ick!“
BJÖRN KUHLIGK