PROZESS: Der alte Mann und die Wut
Ohne größere Probleme hat ein Mann das Sozialamt um gut 100.000 Euro betrogen. Für ihn ist es eine Art Wiedergutmachung für jahrelang erlittenes Leid.
Gibt es das Lautere im Unlauteren? Die Gerechtigkeit im Unrecht? Für Juristen stellen sich diese Fragen nicht. Rein rechtlich ist die Sache also klar. Rolf D. hat die Sozialbehörden in Bremen betrogen, jahrelang und systematisch, wenn auch ohne deren allzu große Gegenwehr. Wie groß der Schaden für sie ist, bleibt am Ende unklar, aber gut 100.000 Euro werden es wohl gewesen sein. Deswegen muss er jetzt zwei Jahre in den Knast, so hat es das Amtsgericht gestern entschieden, im Namen des Volkes.
Rolf D. hat, nein, nicht sich selbst bereichert. Darauf legt er großen Wert. Er habe das Geld, sagt er, "gespendet". An Heime in Ungarn. Hat davon elektrische Rollstühle gekauft und Betten mit Hebebühne, Fernseher und Rollatoren, dazu Computer und ein Faxgerät für die Verwaltung. Allein 78.800 Euro seien dafür draufgegangen, das erinnert er genau, plus Fahrtkosten, Zoll und so weiter. All das ist zumindest nicht völlig zu widerlegen, sagt Amtsrichter Hans Ahlers. Auch wenn die Staatsanwältin sagt: "Das glaube ich nicht." Doch vieles in diesem Verfahren ist nur schwer vorstellbar.
Nein, so weit, sich selbst einen Robin Hood zu nennen - so weit geht nicht mal er selbst. Herr D. ist nicht selbstlos, kein Rächer der Armen und Entrechteten. Eine "unbändige Wut" treibt ihn um. Vor allem eine auf die Sozialbehörden in Bremen.
Warum? Das ist ein ganz lange Geschichte, sie reicht weit, sehr weit in die Kindheit des heute 56-Jährigen zurück. Sie beginnt im November 1959, in Bremen-Hastedt. Dort wird er aufgegriffen, weil er einen "verwahrlosten" Eindruck gemacht haben soll, seinen Eltern "weggenommen", und, nebst Bruder, in ein Heim in Bremen gesteckt. Vater und Mutter ziehen mit dem Wohnwagen als fliegende Händler durchs Land, sind "nicht sesshaft", wie D. sagt. Als die Mutter den Vater - der sie misshandelt hat - ermordet, ist er noch ein Kind. Mit sieben sei ihm "Schwachsinn" attestiert worden, sagt er, mit 14 habe er sodann als "überdurchschnittlich intelligent" gegolten. Eine Schule von innen habe er bis dahin indes nicht gesehen.
Rolf D. lebt Zeit seiner Jugend in vielen Heimen, unter anderem im katholischen Franz-Sales-Haus in Essen. Er ist dort, so sagt er, über Jahre hinweg immer wieder sexuell missbraucht und körperlich misshandelt worden, auch von Geistlichen. Wollte er Reißaus nehmen, sei er in eine kleine Zelle unter dem Dach gesperrt worden, mit einem noch kleineren, vergitterten Fenster unter der Decke, mit einer Pritsche, unter der ein Pinkeleimer stand, ohne Hofgang, mit einer Scheibe Graubrot am Morgen. Und wenn er wieder mal einnässte, so erzählt er, sei er die Nacht über in den Stall gesperrt worden, zusammen mit "riesengroßen Schweinen". Immer wieder ist in seinen Geschichten auch von Zwangsarbeit und Folter die Rede.
Für all das, sagt er, und da ist sie wieder, seine Wut, seine Ohnmacht, für all das habe er nie eine Entschuldigung gehört, sei er nie entschädigt worden, habe er "nie Genugtuung" bekommen. Kirchen und Behörden hätten "alles ausgesessen" - während er über Jahre hinweg nach Mitzöglingen von damals gesucht habe. Einige hat er inzwischen ausfindig gemacht, sie erzählen ähnliche Geschichten, manche sitzen heute in Sicherheitsverwahrung. Nun will D. die einst zuständige Heimaufsicht verklagen.
Er ist einer, der sich selbst einen "streitbaren Vogel" nennt. Seine Prozesse sind zahllos, seine Redeschwälle lang anhaltend. Er ist der Typ eines Querulanten. Aufbrausend. In den Achtzigerjahren war er mal bei der Fremdenlegion. Heute sitzt er schwergewichtig im Rollstuhl, der Bart ist voll, sein langes Haar mittlerweile grau und strähnig geworden. Er sei ein "alter Sack", sagt er, er lebt von Sozialhilfe, kämpft um seine Rente. Zu seinen eigenen Kindern, immerhin sieben an der Zahl, hat er kaum Kontakt. Schon bei der Frage nach ihrem Alter muss er passen. Er hatte einen Herzinfarkt, im Knast, und dann am selben Tag gleich noch einen, weil der erste nicht rechtzeitig erkannt wurde, dazu einen Schlaganfall, und so weiter. "Dass ich heute ein Krüppel bin", sagt Rolf D., daran sei der Staat "mitschuld".
Dass Rolf D. sich fast zwei Jahre lang eine unübersehbare Zahl von Taxifahrten nach Bad Bevensen oder Hannover zu Untersuchungen in Krankenhäusern hat bezahlen lassen, mitunter drei, vier Mal pro Woche, Fahrten, die so gut wie nie stattfanden - für ihn ist es eine Form der Wiedergutmachung. Man könnte auch von Selbstjustiz sprechen. Der Richter nennt es "eine Art Racheakt". Geholfen haben ihm dabei notleidende Taxifahrer, die für ein paar Euro unter der Hand auch mal falsche Quittungen ausstellen. Oder jedenfalls den Vordruck dafür rüberschieben. Vor allem aber Behörden, die regelmäßig Tausende von Euro an Vorschüssen auszahlten. Ohne genauer hinzusehen. "Hier hat praktisch keine Kontrolle stattgefunden", sagt der Richter in seinem Urteil. "Abenteuerlich" sei sie gewesen, die Arbeit der Behörde. Niemand habe dort gefragt, ob die ständigen Fahrten sinnvoll, ja, notwendig waren, niemand geprüft, ob er überhaupt je in den fraglichen Kliniken war. "Das Sozialamt hat versagt", sagt der Verteidiger Sven Sommerfeldt und spricht von einem "erheblichen Mitverschulden". Inzwischen wird gegen die zuständige Sachbearbeiterin wegen Untreue ermittelt.
Dass er jetzt noch zwei Jahre aufgebrummt bekommt - damit kann er im Grunde leben. Er hat schon gut 20 Jahre in Haft verbracht, die Liste seiner Vorstrafen ist lang, er wurde in Deutschland und der Schweiz, in Frankreich, Holland und Belgien verurteilt, meist wegen Diebstahl, oft wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, aber auch wegen Raub und Betrug und Hehlerei. Man könne nicht alles stets auf die schwere Kindheit schieben, wird Richter Ahlers am Ende sagen.
Rolf D. wird weiter kämpfen. Ruhe? Die wird er erst finden wenn seine Wut gestillt ist, er die "öffentliche Anerkennung unserer Leiden" erfahren hat, die er so vehement einfordert. Es ist das Thema seines Lebens.
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