PRESSEVORFÜHRUNG : Restlebenszeit
Ich bin spät dran. Die Pressevorführung von „Ruhr“, dem neuen Film von James Benning, läuft bereits. Dem Benning. Der auch „13 Lakes“ gemacht hat, 13 unbewegte Einstellungen von menschenleeren Seen. Benning. Und ich bin doch schon so müde.
Ich hole mir vorher noch einen Kaffee. „Ist da gerade schon jemand rausgegangen?“ – „Der dachte wohl, er kann umsonst einen Film gucken, und dann kommt so was.“ Auf der Anwesendenliste entdecke ich den bekannten Kritiker D. Der D.! Sonst sehe ich nur ab und zu Oliver Kalkofe bei Pressevorführungen.
Als ich den Vorführraum betrete, sehe ich erwachsene Menschen, die konzentriert auf ein paar Bäume gucken. Minutenlang. Ein Flugzeug fliegt über die Bäume. Noch eins. Irgendwann wechselt das Bild. Ich zähle die Hinterköpfe der Anwesenden: 15. Einer von denen ist D. Was geht wohl in seinem Kopf vor? Sieht er die gleichen Bilder wie ich? Sieht er eine Nebenstraße in Essen oder irgendeine Evidenz poststrukturalistischer Popzusammenhänge?
Die erste Stunde ging doch erstaunlich schnell rum. Bin ich eingeschlafen? Die zweite Hälfte des Films besteht einzig aus einem Kühlturm, aus dem etwa alle zehn Minuten Dampf quillt. Ich rechne aus, dass ich statistisch gesehen noch rund 50 Jahre, also 43.800 Stunden zu leben habe. Die zwei Stunden, die ich für „Ruhr“ hergebe, sind demnach 0,04 Promille meiner Restlebenszeit. Das geht noch.
Kurz vor Ende verlässt ein Mann aus der ersten Reihe die Vorführung. Es ist D. Später, bei der Rückgabe der Kaffeetasse, erfahre ich, dass er sich noch erkundigt hat, ob es einen sechsten Dampfausstoß geben würde. Vermutlich hatte er inzwischen auch die Rechnung mit der Restlebenszeit angestellt. D. ist Anfang 50. Ihm bleiben noch rund 25 Jahre, also hat ihn der Film 0,08 Promille gekostet. Ich wäre an seiner Stelle auch gegangen.
MICHAEL BRAKE