PRESS-SCHLAG: Mitfahrer der Revolution
■ Die französischen Eistanzgeschwister Isabelle und Paul Duchesnay sind endlich befreit: Weltmeister!
Es hätte auch genügt, wenn sich die Duchesnays schlicht in die Mitte der Halle gestellt und dramatisch dreingeblickt hätten. Das Münchener Publikum war ohnehin nicht umzustimmen. Schon als der erste Zipfel des blutroten Revolutionskleides der 27jährigen Isabelle hinter der Bande hervorlugte, hatten die 9.000 Zuschauer die Weltmeister der Eistänzer ausgemacht. „Wir sind das Volk“, schrie selbiges bedrohlich in Richtung Jury. Und wenn ihr, so die Message, auch diesmal nicht die Avantgardisten der Szene auf den Podest hebt, werdet ihr uns kennenlernen.
Denn oft genug schon waren die ausdrucksstarken Geschwister um Titel betrogen worden. 1988 mit ihrer Dschungelkür, 1989 mit Traum und Wirklichkeit. Tanztheater statt Grinsewalzer? Zuviel für die konservativen Richter, noch. Doch 1990 fand Choreograph Christopher Dean den Tanz des Weisen. Die Idee kam ihm wohl während der Abendschau: der Freiheitskampf des südamerikanischen Volkes, getanzt auf dem Eis. Was, bitteschön, kann dramatischer sein, was pathetischer und gleichzeitig die Emotionen so kochen lassen?
Mit Südamerika haben die Frankokanadier zwar nichts am Hut, allein das Drama reizte sie. So entstand Missing: Der getanzte Befreiungskampf zu chilenischer Flötenmusik. Keiner konnte sich dem Rebellen-Zauber dieser Übung entziehen. Ausgenommen die Richter, die bei der WM 1990 in Leningrad stur die klassische Kür von Klimova/Ponomarenko auf Platz eins werteten. Bei der EM in Sofia hatten die Duchesnays selbst zu hoch gepokert und eine allzu künstlerische Übung präsentiert, die nicht einmal das Publikum verstand.
An diesem Abend muß Choreograph Dean wieder ferngesehen haben. Offenbar eine Serie, etwa Der heiße Wai II oder Rocky V. So ward Missing II geboren. Damit es auch alle kapieren, wurden in München Handzettel mit der Inhaltsangabe verteilt. Unerlaubte Werbung in eigener Sache. Wieder ertönte die chilenische Flöte, und wieder belegte die Trauer Unterdrückter die Seelen der Fans. Doch diesmal wandelte sich die Schwermut in Freude.
Die ersten freien Schritte, vorsichtig, zögernd, dann mutiger, freudig. Immer schneller drehen sie sich, schauen hier und dort, werden mitgerissen von der aufkeimenden Fröhlichkeit, bis sie übermütig miteinander herumtollen. In waghalsigen Bewegungen genießt man die neue Freiheit, leicht, locker und vollkommen überschwenglich. Da endlich hatten sie sich befreit, die Geschwister, als sie sich unter tosendem Beifall aufs Eis schmissen und heftigst umarmten. Und nach dem ebenfalls hinreißenden Beitrag von Klimova/Ponomarenko stand fest: Die Duchesnays sind Weltmeister.
Doch so sehr sie es verdient haben, es bleibt ein ungutes Gefühl. Es bleibt der Verdacht, die Phonzahl des Jubels habe entschieden. „Presse und Publikum, das sind unsere Preisrichter“, gab Trainer Martin Skotnicky später unumwunden zu. Doch das auch dies hart sein kann, erlebten die Sieger kurz dannach. Wie durch die Mangel gedreht, bemühten sie sich dreisprachig um Antworten. Bis Paul aufgab: „Wir sind psychisch total am Ende.“ Nächste Woche beginnt bereits die Schaulauftournee, Ende Mai heiratet Isabelle den Choreographen. „Und dann sehen wir uns glücklicherweise ein paar Wochen nicht“, sagt Paul.
Ob bereits an Missing III gearbeitet wird, ist nicht bekant. Doch der Trainer droht: „Möglich ist alles.“ Die Duchesnays auf dem Weg zur Wahlurne, nachdem sie die Republik ausgerufen haben? Oder — Gnade — bei einer Bundestagsdebatte? Isabelle als Dienstwagen- Rita, Paul als Mitterrand? Alles, bloß das nicht. Und angsichts des schlechten Fernsehprogramms bitten wir inbrünstig: Nehmt Herrn Dean die Glotze weg! miß
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