PRESS-SCHLAG: Am Anfang war der Hurone
■ Eishockey als Geschenk der Indianer an die Sportwelt
Nach der Geburtsstunde des deutschen Fußballs und den ersten geglückten Sektexperimenten hierzulande erlebte Berlin im November 1908 eine weitere Premiere. Im Schöneberger „Eispalast“, einem von drei prunksüchtigen Tempeln kaiserlicher Wintersportfreaks, standen sich zwei Sportphilosophien gegenüber. Die Equipe des SC Charlottenburg wollte auf dem natürlichen Glatteis eigentlich Bandy spielen: ein Freizeitvergnügen, bei dem es galt, einen Holzball unter tatkräftiger Mitwirkung kurzer Stöcke in zwei Öffnungen in der Spielbande zu bugsieren. Doch damit befanden sich die Charlottenburger gehörig auf dem Holzweg.
Denn die angetretenen Rivalen des Berliner Schlittschuh-Clubs wollten partout „Kanada“ spielen — in Prinzip dem Bandy ähnlich, nur das die Kanadier mit weit größeren „sticks“ (Schlägern) bewehrt, einer bis dato unbekannten Hartgummischeibe („Puck“) hinterherschlidderten. Kaum hatten sich die Mannschaften auf einen spielfähigen Kompromiß geeinigt, schon stand es vor ausverkauftem „Tempel“ 13:0 für die „Kandadier“. Schnell machte das exterrestrische Vergnügen, das die überwältigte Fachpresse als „Eishockey“ etikettierte, seine Ehrenrunde durch Europa. Böhmische Reporter waren die ersten, die die sensationelle Nachricht von der neuen Eiszeit ins ferne Prag übermittelten. Auch Skandinavien, wo man bis dato dem betulichen Bandy huldigte, wurde voll vom Puck getroffen.
Nur die Herren Dikatoren Stalin und Mussolini versuchten, sich dem „bürgerlich-dekadenten“ Flitzevergnügen in den Weg zu stellen, während ihr Waffenbruder Hitler dem schnellsten Mannschaftssport der Welt zwar nicht folgen konnte, ihn jedoch tolerierte. So konnte es geschehen, daß die Sowjetunion erst in den frühen 50er Jahren in den sportlichen Kampf um die Weltherrschaft eingriff (und sofort gewann!), weil Stalins eisige Ablehnung erst in den 40er Jahren auftaute. Heute, schreibt der einst für Sparta Prag verteidigende Eishockey-Experte Jan Berwid-Buquoy in seinem Buch Eishockey, huldigt man in über 50 Nationen der Puckjagd auf Kufen.
Doch wie bei (fast) allen Erfindungen aus Berlin, so waren auch für die legendäre „Eispalastrevolution“ Zugereiste verantwortlich. Kanadische Studenten hatten das Puckfieber um 1900 nach Berlin eingeschleppt. Wahrscheinlich waren sie sich der Bedeutung ihres Handelns nicht einmal bewußt. Denn in ihrer Heimat zählte der Kampf mit dem Krummstock zu den wenigen Urvergnügen in einer unwirtlichen Umgebung.
Bereits im Jahre 1534 notierte der bretonische Seefahrer Jaques Cartier ein höchst seltsames Ereignis in sein Tagebuch. Der sturmerprobte Kapitän, der wie Kolumbus einen alternativen Seeweg nach Indien suchte, aber in Quebec an Land ging, beobachtete, wie „Indianer“ des Stammes der Huronen mit „Schäferstöcken“ (französisch: hoquet) auf Eis und Schnee Jagd auf Leder- und Holzpucks machten. Aus „hoquet“ wurde rasch „hoquey“, das in europäischen Breiten den dort kultivierten Abarten wie „Eispolo“, „Bandy“ und „Eisball“ sehr bald den Garaus machte.
Allerdings war die kanadische Spielart etwas ruppiger als ihre europäischen Vorfahren. „Die Statistiken beweisen uns eindeutig, daß 96 Prozent aller ernsthaften Verletzungen durch den bösen Willen des Gegners entstehen“, legt Berwid- Buquoy dar.
Es liegt also nicht an der Sportart, sondern an den sporttreibenden Bösewichten, wenn zum Beispiel beim diesjährigen Play-Off der nordamerikanischen Profiliga NHL zwei Teams Zahn um Zahn ganze 306 Strafminuten „erkämpfen“. Bei einer effektiven Matchdauer von 60 Minuten. Da hoffen die Eishockeyfans auf gepflegtere Umgangsformen bei der laufenden Weltmeisterschaft in Finnland. Jürgen Schulz
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