■ PREDIGTKRITIK: Vorläufige Veranstaltung
Brandalarm? — Beim Öffnen der schweren Eichentür meiner Pfarrkirche St. Matthias am Winterfeldtplatz in Schöneberg schlägt mir schon der Qualm entgegen. Er entweicht diesem kugelförmigen Metallgerät des Ministranten, das in einem beliebten Schwulenwitz »Handtäschchen« genannt wird. Gleich sechs Ministranten wandeln weihrauchschwenkend durch das Kirchenschiff, gefolgt vom Priester, der — wie es sich gehört — am lautesten singt. Hinter ihm hat sich das Fußvolk — hier auch Gemeinde genannt — eingereiht und folgt singend dem Qualm. Die meisten tragen eine Kerze in der Hand, die es im Vorraum günstig zu erwerben gab.
Wo bin ich hier nur hineingeraten? — Jedenfalls handelt es sich ebensowenig um eine Polonaise wie um die religiöse Variante des Faschings: Heute ist Lichtmeß, erfahre ich sodann, außerdem der 40. Tag nach Weihnachten und rein liturgisch das Fest der Darstellung des Herrn. Im zarten Wickelalter von 40 Tagen brachten sie Jesus zwecks Beschneidung in den Tempel — eine durchaus normale Angelegenheit. Eher ungewöhnlich aber, daß dort im Tempel zwei Alte weilten, Simeon und Anna, von der berichtet wird, sie sei damals seit 84 Jahren Witwe gewesen. Die beiden erkennen Jesus als den Erlöser und sind danach zum Sterben bereit. Aber was hat das mit der Prozession und den Kerzen zu tun? — Zur Aufklärung auch solch schwieriger Sachverhalte gibt es die Predigt, der ein Teil der Gläubigen allerdings nur sehr unaufmerksam folgt, da sie noch mit der vorher entzündeten Kerze beschäftigt sind: entweder sie tropft, und dann hoffentlich nicht auf das Gesangbuch, oder sie fällt um, obwohl das unermeßliche Improvisationsvermögen der Gläubigen Hustenbonbon-Schachteln oder Tempo-Hüllen als standfeste Unterlagen aus den Taschen zauberte.
Die Lichterprozession, so beginnt der Priester, sei leider aus der Mode gekommen: Niemand wolle mehr mit der Kerze in der Hand aus der Kirche ziehen, sei es aus der Angst, daß beim Zurückkehren die Handtasche geklaut ist oder nur die besten Plätze besetzt sind. Und das in einer Zeit, in der ständig von Gefühlen und Körperlichkeit geredet wird: Wie ließe sich das Körperliche des Glaubens besser ausdrücken als mit dem Licht vorneweg? — Bloß traue sich das niemand mehr heutzutage, außer im niederrheinischen Kavalaer, einem Wallfahrtsort, den der reiselustige Pfarrer ebenso schätzt wie Fatima: »Da macht man's noch: Laßt uns ziehen in Frieden, Jesus entgegen.« Bei der Lichterprozession handele es sich um eine Etappe zur Endgültigkeit, sozusagen eine vorläufige Veranstaltung, quasi die Kerze als Ersatz für Jesus, bis er kommt. Solange zieht der Mensch dem Licht entgegen — mit der Kerze bis in den Tod, vor dem Mensch natürlich Angst habe. Da könne das Licht der Sterbe-Kerze Trost spenden, bloß sei ja heute oft beim Sterben niemand mehr da, der sie auch anzünden könnte.
Simeon und Anna brauchten keine Kerze mehr, aber für alle anderen ist das Symbol des Lichts sozusagen ein metaphysischer Haltegriff: Das Licht ist da, und doch ist es flüchtig. Beim Rausgehen steht der häßliche Karton auf einem Tisch: Es sind noch Kerzen da. Lutz Ehrlich
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