PREDIGTKRITIK: Seelenfischen
■ Vorabendmesse in der St.-Matthias-Kirche am Winterfeldtplatz
Wen soll man dafür noch verantwortlich machen? Das Wetter? — Draußen regnet es anhaltend wie nieselnd vor sich hin. Kein Wunder also, wenn die Kirche am Winterfeldtplatz trotz ihrer strategisch günstigen Lage zu diversesten Altersheimen des Bezirks zur Vorabendmesse nur äußerst mäßig gefüllt ist.
Aber sollte es wirklich nur das Wetter sein, oder spielt nicht auch eine gewisse religiöse Ermüdung eine Rolle — nach all den hohen Feiertagen rund um Ostern? — Solche Fragen stellt sich nur der Ungläubige — aber wie viele sind derer? — Worauf soll er sich denn nach Ostern noch so richtig freuen? — Pfingsten zählt nicht so ganz, und bis Weihnachten ist es noch ein Weilchen hin. Trost in dieser schweren Situation kommt da zuerst einmal vom Papst aus Rom: Nicht, daß sich der Katholik jetzt darauf freuen soll, krank zu werden, aber sollte es ihn dennoch mal erwischen, so kann er sich ab sofort die Ölung, die früher die letzte war, schon bei der nächsten Grippe abholen. Denn wie schon in früheren Jahrhunderten hat der Papst die heilende Wirkung dieses Öls auch für den Körper wiederentdeckt. Da ließe sich jetzt unendlich phantasieren, wie der Papst beim nächsten Esoteriker-Treffen oder gar beim Kongreß für sanfte Medizin auftritt und sein Öl anpreist. Allerdings ist bei diesem Öl mehr als bei allen konventionellen Pillen eins klar: es hilft nur, wenn man dran glaubt, und mit dem Glauben steht auch nach Ostern nicht immer alles zum besten, wie der Pfarrer vom Winterfeldtplatz weiß: Denn ist nicht auch Jesus seinen Jüngern nach der Auferstehung noch mehrmals erschienen, um ihren Glauben zu stärken — oder zu prüfen? So am See von Tiberias, wo er Simon Petrus gleich dreimal gefragt hat, ob er ihn wirklich mehr liebe als alle anderen. Allerdings müsse man Gott mehr gehorchen als den Menschen, sagt der Pfarrer, aber was heißt das? Woher weiß ich überhaupt, was Gott von mir will? Mancher Katholik verlasse sich dabei auf die Kirche, der andere auf die Bibel, bei der es schon viele offene Interpretationsfragen gebe, und der nächste verläßt sich am liebsten auf sein eigenes Gewissen. Aber funktioniert das immer wie ein Kompaß, der sagt, wo es langgeht, und hat nicht selbst Petrus Jesus gleich dreimal verraten, bevor der Hahn nur einmal krähte? Petrus dachte, dies sei in dieser Lage für alle besser — sozusagen der Verrat mit gutem Gewissen. Woraus zu ersehen ist, wie kompliziert es sich mit dem Willen Gottes verhält. Wie schwer muß es da fallen, ihm zu gehorchen, wenn man nicht mal so genau weiß, was er will?
Den Jüngern befahl er seinerzeit, nochmals die Fischernetze auszuwerfen, obwohl sie als Fachleute wußten, daß da nichts zu erwarten war. Sie taten es trotzdem — aus Liebe zu ihm: Gehorsam sei also besser mit Liebe übersetzt, und hat nicht auch Jesus aus Liebe seinem Vater gehorcht, als er sich auf diese Welt schicken ließ? So wie ihn liebt Gott auch uns, da können wir ihn ruhig wiederlieben, auch mehr als alle anderen Menschen, denn diese Liebe geht niemals auf Kosten anderer.
Und wenn er mit dieser Predigt nur einen Menschen mehr vom Gehorsam zu Gott habe überzeugen können, dann bereite ihm das eine große Freude. Nun habe ich es verstanden: Ich soll mich darüber freuen, anderen eine Freude zu machen. Und wenn das so nett vorgetragen wird, dann kann man kaum nein sagen. Lutz Ehrlich
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