■ PREDIGTKRITIK — KATHOLISCH: Balken im Auge
Und da behaupte noch jemand, mit der Kirche sei nichts mehr los: die Protestanten würgen an ihrer Vergangenheit als Kirche im Sozialismus, und die Katholiken quälen sich mit dem Bibel-Revoluzzer Drewermann. Sollte auch das im Rahmen der göttlichen Vorsehung liegen, in deren Zeichen dieser Sonntag liegt? — Sehen wir auf die Kanzel des Hedwigsdoms in Mitte, in dem sich die Messe bis zur Predigt eher geschleppt hat: »Töpferware wird danach beurteilt, wie heiß sie gebrannt wird«, hieß es in der Lesung. Bislang hielt er die Messe lauwarm, doch zur Predigt legt der Priester Kohlen nach.
Noch steht er ruhig vorm Pult und beginnt mit dem Selbstverständlichen: »Kann ein Blinder einen anderen Blinden führen?« Nein, sagt Jesus, sie fallen beide in die Grube. Das leuchtet ein und, so meint der Priester, ist zudem hochaktuell, weil nämlich das Selbstverständliche heutzutage im Alltag gar nicht mehr selbstverständlich sei. Der Mensch von heute handelt oberflächlich und tut spontan einfach das, was er will — ohne sich die entscheidende Frage zu stellen: Von welchem Menschenbild gehe ich eigentlich aus?
Nun geht's vom Abstrakten zum Beispiel, vom Menschenbild zur aktuellen Vergangenheitsbewältigung, und jetzt kommt der Priester so richtig in Fahrt. Manche dächten, man müsse nur alles öffentlich machen, und schon sei es bewältigt, wie jetzt die Vergangenheit. Aber weit gefehlt, so geht's, nicht, und gelöst werde damit schon gleich gar nichts. Gerade bei so einer schweren Aufgabe sei der ganze Mensch gefragt, - dessen innere Einstellung, aus der sich das Weitere ergibt: »Das Handeln folgt dem Sein«, sagt der Priester, und das liegt in seiner inneren Logik gar nicht weit von Karl Marx und dem Bewußtsein weg, das bekanntlich vom Sein bestimmt wird. Aber das wollen wir den Priester gar nicht hören lassen. Schon so reicht es ihm mit dem Sozialismus. Jahrzehntelang sei im Osten das »neue Menschenbild« eindoktriniert worden, und was, fragt der Geistliche, war an diesem Menschenbild falsch? Von wegen der Mensch brauche nur die optimalen Bedingungen, um sich zu entwickeln! Gerade da habe sich doch gezeigt, daß der Mensch nicht dazu geschaffen sei, sich irgendeine neue Existenz theoretisch zu erfinden, anstatt sich in der von Gott vorgegebenen Ordnung einzufinden.
Schon fängt der Priester an zu husten, so sehr hat er sich in Rage geredet, aber es kommt noch besser: »Wer den Balken im Auge hat, der soll nicht nach dem Splitter bei seinem Nachbarn suchen«, heißt es und: die mit dem Balken sind die Westler. Hatten die sich aus sicherer Distanz nicht noch mehr dem unheiligen Menschenbild des Sozialismus verschrieben? — Ist es nicht noch in bester Erinnerung, wie der Westberliner nach Überschreitung der Grenze immer die Spuren des sozialistischen Glücks in den Augen der Ostler zu sehen glaubte? Wie irrig dieser Glaube an die Alternative war, zeige sich erst jetzt, wo alles vorbei ist: Statt Solidarität unter den Menschen sei nur das Gefühl geblieben, das bisherige Leben sei vergeblich gewesen.
Gott sei Dank ist da die Kirche zur Stelle, damit Gott die Vorsehung und das Schicksal walten lassen kann. Nochmals Husten: Niemand müsse sich vor der Kirche fürchten, denn die Kirche sei kein Apparat, sondern du und ich. Und dies war der Schlag gegen Drewermann. So hat jeder sein Fett weggekriegt, die Kirche kann sich weiter ihrer Hauptbeschäftigung widmen: der Verkündung der Frohen Botschaft. Damit diese so richtig ankommt, sind wohl von Zeit zu Zeit auch gänzlich unfröhliche Worte vonnöten. Lutz Ehrlich
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