PORTRÄT: Unter Revolutionären der Linksabweichler
■ Mohamed Boudiaf (72), nach 28 Jahren Exil heute Präsident des Hohen Sicherheitsrats
„Auf der einen Seite haben wir das System der Armee und jene, die davon profitieren, auf der anderen Seite die betrogenen Massen, deren Geduld zu Ende geht.“ Diese präzise Analyse der Lage in seinem Land stammt von Mohamed Boudiaf (72), dem provisorischen Staatspräsidenten Algeriens. Geschrieben hat er den Satz allerdings schon 1963 in Ben Bellas Kerkern, wo er dafür büßte, daß er die algerische Revolution zu Ende führen wollte. Am vergangenen Sonntag unterschrieb Boudiaf — vor Wochen erst aus 28jährigem Exil in Marokko zurückgekehrt — das Dekret zum Ausnahmezustand, der den Putsch der Militärs gegen die Ansprüche der betrogenen Massen absichern soll.
Als er am 16.Januar aus dem Flugzeug stieg, ahnte Boudiaf kaum, was ihn erwartete. In seinem letzten Interview in Kenitra (Marokko) hatte der alte Revolutionsheld gesagt: „Jetzt haben die Islamisten die Mehrheit, jetzt müssen sie reagieren.“ Und: „Die Armee? Welche Rolle spielt schon die Armee? Hat sie ein Programm? Hat sie überhaupt eine Vorstellung vom Problem?“ General Khaled Nezzar holte ihn persönlich am Flieger ab, aber Boudiaf widerstand länger als erwartet — sein erster TV-Auftritt am gleichen Abend wurde ohne Erklärung um zwei Stunden hinausgeschoben. Seither aber legitimiert der FLN-Gründer im Namen der antiimperialistischen Geschichte die Repression der Junta.
Dabei war der Name Boudiaf lange Zeit aus allen Schulbüchern gestrichen, galt doch der Revolutionär der Nomenklatura als Linksabweichler. Er wurde 1919 in M'Sila, im Osten Algeriens, geboren, der Wiege des algerischen Widerstandes gegen die französischen Kolonialisten. Boudiafs Vater war Bauer und Schneider. Mohammed durfte die Schule besuchen. 1941 wurde er Schreiber in der Kolonialverwaltung, zwei Jahre später — Boudiaf leistete seinen Militärdienst in der französischen Armee ab — begann seine politische Karriere mit einem Mißerfolg: Die nationalistische Partei (PPA) von Messali Hadj lehnte die Aufnahme von Boudiafs Soldatenkomitee ab. Daraufhin ging Boudiaf in den Untergrund und bereitete in der „Organisation spéciale“ (OS) den bewaffneten Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft vor. Er stellte sich von Beginn an gegen Hadj, den unbestrittenen Chef der Nationalisten, und gründete das revolutionäre Komitee CRUA, das zum Vorläufer der FLN wurde. Am 1.September 1954 begannen sie den Aufstand. Der historische Chef der Befreiungsbewegung tauchte dann später in allen „provisorischen Regierungen“ auf, aber seine Zeit war schnell vorbei: In der FLN hatten Ben Bella, Boumediene und mit ihnen die Armee die Macht übernommen, die Herrschaft der Clans und Generäle begann. Oliver Fahrni
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