POLEN: JAROSŁAW KACZYŃSKI WILL PATRIOTISMUS GEGEN, NICHT IN EUROPA : Ein Stolz der Unterdrückten
In der Regierungserklärung des neuen polnischen Premiers Jarosław Kaczyński figurierte „Geschichtspolitik“ an prominenter Stelle. Nach Kaczyński gilt es, die polnische Geschichte in den Dienst einer Erziehungsarbeit zu stellen, die den Patriotismus stärken soll. Es geht darum, Stolz auf das Polentum zu wecken.
Wie verträgt sich ein solcher Einsatz für den nationalen Stolz mit der Idee der europäischen Einigung und dem intellektuellen wie emotionalen Bezug auf die Europäische Union? Dieser Stolz könnte dann eine produktive Funktion haben, wenn er die besonderen, unverwechselbaren Beiträge jeder Nation zu einem gemeinsamen, demokratisch verfassten Europa herausarbeitete. Im Fall Polens läge dieser Beitrag im Freiheitskampf der polnischen Gesellschaft gegen den Realsozialismus, in der Kraft zur Selbstorganisation, wie sie sich am Beispiel der Gewerkschaft Solidarność zeigte, im Unternehmungsgeist und Optimismus von Millionen Polen in den schwierigen Jahren nach 1990, in einem geschärften Bewusstsein der Bürger gegenüber jedem Anzeichen autokratischer Herrschaft.
Dem gegenüber ist Kaczyńskis Version des „nationalen Stolzes“ davon gekennzeichnet, dass ihm jeder Bezug auf Europa und den europäischen Einigungsprozess fehlt. Wo von Europa die Rede ist, wird das Recht auf nationale Selbstbehauptung hervorgehoben, ganz so, als ob Polen bislang unter der Knute des Brüsseler Zentralismus gelitten hätte. Und der positive Bezug auf die europäischen Institutionen erschöpft sich in der Versicherung, so viel Euro wie möglich aus den EU-Fonds herauszuschlagen.
Statt auf eine europäische Perspektive läuft die Stolz-Propaganda der Kaczyński-Brüder auf eine selbstreferenzielle Vorstellung von Patriotismus hinaus. Dass Polen zum ersten Mal seit vielen Generationen in sicheren Grenzen lebt und seine Zukunft kraft der EU auf solidem Fundament bauen kann, spielt für die Zwillinge keine Rolle. Ihr Patriotismus ist ein anderer, er schürt alte Bedrohungsängste (vor der deutschen wie vor der russischen Seite). Die eingeforderte Vaterlandsliebe wird genährt von einer – Gespensterbeschwörung.
CHRISTIAN SEMLER