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Archiv-Artikel

PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH Der Pietätsbeauftragte

Im Katastrophenfall wissen die Deutschen immer am besten, was zu tun ist: erst einmal das Radioprogramm ändern

Nach der Ebbe kommt die Flut. Nur im Radio kommt nach der Katastrophe immer zunächst einmal der Programmdirektor und sagt, welche Liedtitel ab sofort nicht mehr gespielt werden dürfen. Als am 11. September 2001 viele Menschen aus Verzweiflung aus den Fenstern des World Trade Centers sprangen, wurde im Radio „It’s Raining Men“ (Es regnet Männer) von Gerry Halliwell abgesetzt. Das schöne Lied konnte zwar nichts für den terroristischen Anschlag, aber die Angst, pietätlos zu erscheinen, war sehr viel größer.

Zurzeit – wie lange noch, weiß keiner – darf der Song „Die perfekte Welle“ der deutschen Sängerin Juli in fast allen öffentlich-rechtlichen und vielen privaten Radiostationen nicht mehr gespielt werden. Außerdem auf der Streichliste: „Die Flut“ von Witt/Heppner und „Land unter“ von Herbert Grönemeyer. Gar nicht erst auf die Liste gesetzt, weil sowieso keine Chance mehr: der Song „Alles muss schwimmen“ der Gruppe Grafzahl und „Verstummt und abgetaucht“ von Wolf Mittler.

Wahrscheinlich gibt es in den Schubladen der Hörfunk-Programmdirektoren eine geheime Pietätsliste, kategorisiert nach Katastrophenarten. Bei Flugzeugabstürzen mit mehr als 250 toten Passagieren, von denen mindestens dreißig Prozent der Opfer Deutsche sein müssen, wird das Lied „Fliegen“ von Michelle sofort abgesetzt, und Andy Borgs „Wieder in die Sonne fliegen“ darf erst nach 22 Uhr gesendet werden. „Nach Lawinenunfällen bitte „Weiß wie Schnee“ von Wolfgang Ambros sofort aus dem Programm nehmen!

Ich stelle mir vor, wie der öffentlich-rechtliche Pietätsbeauftragte morgens die Zeitung liest und dann zum Telefonhörer greift: „Herr Musikredakteur, werfen Sie bitte die CD ‚Unsteter Wind‘ von Magness sofort in den CD-Schredder, es gibt eine Sturmwarnung für die Insel Sylt!“ Merkwürdigerweise werden unter den Künstlern die Musiker besonders vom Betroffenheitsfaktor gebeutelt.

Als vor zehn Jahren in der Ostsee die Fähre „MS Estonia“ versank und mehr als 800 Menschen ertranken, kam niemand auf den Gedanken, am nächsten Tag in der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister anzurufen und zu verlangen, die vielen Bilder mit Schiffbrüchigen sofort abzuhängen. Und auch die Enthauptung des Briten Kenneth Bigley im Irak während des Münchner Oktoberfests hatte meines Wissens keine Schließung des dortigen Varieté-Theaters „Schichtl“ zur Folge, wo Scheinhinrichtungen mit dem Schwert seit Jahren eine Attraktion sind.

Das deutsche Wort Geschmack lässt sich in viele Sprachen übersetzen. Bei „Geschmacklosigkeit“ aber versagen die meisten Lexika. Es ist ein typisch deutsches Wort, so ähnlich wie „Blitzkrieg“ und „Gemütlichkeit“. Es beweist, dass die Deutschen eines der mitfühlendsten Völker der Erde sind, die im Betroffenheitsfall sofort richtig reagieren.

Der Kanzler sagt seinen geplanten Österreichbesuch ab und lässt sich filmen, wie er zu einer Sitzung des Krisenstabs im Auswärtigen Amt eilt, wo man ihm auf einer Landkarte die südostasiatischen Inseln zeigt.

Was tun die Russen im thailändischen Phuket? Im Hotel „Hilton“, wo die meisten von ihnen wohnen, haben sie am Abend der Katastrophe getanzt. Das ist verbürgt und nach dem deutschen Lexikon als „geschmacklos“ zu bezeichnen. Während die geschmackvollen Deutschen sich zurzeit ein Wettrennen liefern, welcher Prominente die erste „Flut-Gala“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eröffnen darf.

Als der sehr deutsche Sänger Heino von einer Hilfsorganisation vor kurzem gebeten wurde, eine Hilfsaktion gegen Kinderarmut in Sri Lanka zu begleiten, ließ er sich vertraglich sichern, dass die Hotels, in denen er und seine Frau übernachten sollten, nicht unter vier Sterne haben. Das nenne ich Stil.

Fragen zur Pietät? kolumne@taz.de Im neuen Jahr: Kirsten Fuchs über KLEIDER