PETER UNFRIED über CHARTS : Im Stadion und auf der Bühne
Warum die Linken plötzlich den Fußball ernst nehmen – und worin der Fortschritt bei Max Mutzke besteht
Linken Fußball gibt es nicht. Das wusste schon Norbert Seitz, der Erfinder des guten, alten Fußball-Politik-Analogien-Spiels. Schon gar nicht in der globalisierten Welt des Spitzen- und Unterhaltungsfußballs. Im Übrigen gibt es ja auch keine linke Politik mehr. Jedenfalls nicht in der realen Welt außerhalb von Oskar Lafontaines Bild-Kolumne. Das ist die Ausgangslage, in der man den Eindruck hat, es würden sich Linke verstärkt und auf eine neue Art dem Fußball zuwenden.
Warum? Ich redete darüber mit Uli Fuchs, Koautor des Klassikers „Der Ball muss rund sein, damit das Spiel die Richtung ändern kann“ – und als solcher Begründer der „Neuen Sachlichkeit“ in der Fußballberichterstattung. Die zwei entscheidenden Unterschiede, die „Der Ball muss rund sein“ von Seitz, aber auch von Feuilletonisten wie Walter Jens, Böttiger oder Moritz trennt: Fuchs hat den Fußball studiert. Und ernst genommen. Obwohl er ein Linker ist. Genau daraus ist Fortschritt entstanden.
Trotzdem wollte ich mal auf eventuelle Schuldgefühle antesten und sagte: „Uli, früher hast du mit den Bauern und Winzern vor Wyhl gekämpft. Heute sinnierst du über Bajramovics Defizite in der Rückwärtsbewegung.“
Nicken.
„Du könntest doch auch Politikjournalist sein.“
Er antwortete: „Wozu?“
Später saßen wir im Garten von Klaus Theweleit und sprachen mit dem Philosophen über Fußball, bis die gute Sonne von Freiburg untergegangen war. Für Spätgeborene: Theweleit ist eine intellektuelle Leitfigur der Nach-68er („Männerfantasien“). Jetzt hat er ein Fußballbuch geschrieben. Genauer gesagt: das Fußballbuch.
Wir redeten also. Schon auch ein bisschen über Schröder, Völler und die Unmöglichkeit, die beiden so schön zusammenzukriegen wie einst Adenauer und Herberger. Oder Kohl und Vogts. Lang aber auch über Fußball. Den richtigen Fußball. Den man im Stadion spielt. Im Garten herrschte Einigkeit: Den Fußball ernst nehmen ist gut für den Fußball. Und was ist mit dem Rest? Theweleit hat in „Tor zur Welt“ eine Intellektualisierung des Fußballs „nach dem Wegfall der Utopien“ konstatiert. Wenn er etwas beklagt, dann jedenfalls nicht die Platzhalterfunktion des Fußballs.
Ist es also in Ordnung, sich als Linker derzeit so intensiv und voller Lust dem Fußball zu widmen, Herr Theweleit?
Theweleits Antwort: „Selbstverständlich. Vielleicht ändert sich das ja wieder. Aber im Moment gibt es nichts anderes.“
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Was das Nachdenken über den Eurovision Song Contest betrifft, so ist das sicher nicht so weit vorantreibbar wie die neue Erforschung des Fußballs. Aber: Denken, sagt Theweleit, ist eine Qualität, die nicht vom Inhalt abhängt. Daran musste ich denken, als der führende deutsche Grand-Prix-Wissenschaftler mir eine CD mit den relevanten neun Versionen von Max Mutzkes „Can’t wait until tonight“ schenkte sowie ein zweite mit sämtlichen Songs der anderen. Brav hörte ich sie mehrfach durch, um mich kompetent und vernünftig äußern zu können.
Mein Fazit – auch nach Istanbul: Bleiben wird der Song nicht. Anders als „Ein bißchen Frieden“, Nicoles Siegertitel von 1982. Nicole hat überdauert, weil sie gewann. Aber auch, weil sie und ihr Lied im Kontext der geistig-moralischen Wende zu interpretieren waren. Das Mädchen, das Kleidchen, die Wandergitarre, das Lied – wen es da nicht heute noch kräftig würgt, muss ein Herz aus Neokonservativismus haben.
Was aber sagt uns Max? In ihn etwas reinzuprojizieren, fällt so schwer wie in, sagen wir, Michael Ballack. Das muss nicht gegen Max sprechen, wie es auch nicht gegen Ballack spricht, dass er bloß gut Fußball spielt.
Außerdem sind Projektionsflächen derzeit – der gesellschaftlichen Befindlichkeit entsprechend – eh hauptsächlich negativ aufgeladen. Max ist Sänger eines okayen Popsongs. Mehr nicht. Immerhin. Eine Utopie ist das nicht. Aber im Vergleich mit Nicole allemal ein bisschen Fortschritt.
Fragen zum Fortschritt?kolumne@taz.deDienstag: Jenni Zylka über PEST & CHOLERA