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Archiv-Artikel

PETER UNFRIED über CHARTS Fahrenheit 72

Kalifornisches Tagebuch (IV): Ausgerechnet im schönen Eugene, Oregon, prophezeit man mir einen baldigen Tod

Nach drei Innings stand es schon 1:4 gegen die Emeralds. Die warme Abendsonne von Oregon zog sich gerade hinter die Hügel zurück. Das Spiel war praktisch schon gegessen, die Fries auch, da begann mein Tribünennachbar davon zu sprechen, dass er ja drei Jahre alt sei. Und wie alt ich gleich wieder sei.

„Vierzig“, sagte ich.

Das Publikum schrie entsetzt auf. Aber das vielleicht auch wegen des Home Runs, mit dem das Gästeteam namens Everett Aqua Sox gerade seine Führung auf 5:1 ausbaute.

„Vierzig“, wiederholte mein Tribünennachbar nachdenklich. „Das ist doch schon ganz schön alt, oder?“

Wenn man drei ist, ist sogar fünf ganz schön alt.

„Vierzig ist uralt“, sagte ich.

Er antwortete: „Dann stirbst du sicher bald.“

*

Es ist ein bisschen schwierig, präzise und kühl zu benennen, was so einen Abend beim Baseball mit den Kindern so unvergleichlich lebendig macht. Es hat etwas zu tun mit der Temperatur an einem Sommerabend in Kalifornien oder Oregon. Man muss nichts anziehen, man muss nichts ausziehen, man ist in Harmonie mit seinem alternden Körper. Das hat etwas Schwereloses. Dann ist da dieses Spiel. Baseball. Es gibt ja viele Vorurteile, speziell von uns europäischen Banausen. Es ist aber ungerecht und undifferenziert zu sagen, dass Baseball langweilig ist und eh nichts passiert. Erstens bedienen die Unterhalter der Tribünendramaturgie fleißig und professionell all die, die Zerstreuung, Patriotismus oder Gutscheine für Fastfood wünschen. Zweitens sind die Spieler Profis und treffen schon ab und zu auch einen Ball. Drittens wird aber die objektive Bedeutungslosigkeit des Ereignisses bei einem Minor-League-, also Drittligaspiel nicht verbrämt. So stellt sich bei halbkonzentrierter Beschäftigung mit dem eigentlichen Spiel eine wunderbare innere Ruhe ein. Schon eine halbe Stunde nach Absingen des Star Spangled Banner ist die Entfremdung gegenüber dem falschen Amerika des George W. Bush zurückgedrängt – okay, das kann man als Eskapismus abtun. Aber auch das Hadern mit dem Falschen, Fremden, Unvollständigen der eigenen Existenz macht einer angenehmen Leere Platz. Die Leere fühlt sich aber gar nicht leer an, sondern voll.

*

Mein Tribünennachbar erzählte mir, dass er ja den Tod kenne. Neulich habe er eine Fliege kaputt geschlagen. Bei Oma.

Hm. Die hatte tatsächlich eine berüchtigte Fliegenklatsche. Und scheute sich nicht nicht, sie einzusetzen und das auch noch zu propagieren.

Weiß der Teufel, warum: Ich sagte ihm, das sei aber gar nicht schön. Es habe sich da sicher um eine Fliegenmama gehandelt, weshalb die armen Fliegenkinder nun Halbwaisen seien.

„Nein“, sagte er, „das war ein Fliegenpapa.“ Die Fliegenkinder seien mit Mama zu Hause geblieben. Und das sei kein Problem, die kriegten einen neuen Papa. Und im Übrigen, wo kämen er und seine Schwester eigentlich hin, wenn wir dann tot seien?

Wie in Betrieben mit flachen Hierarchien üblich und bei Ahnungslosigkeit immer probat, stellte ich reflexartig die Gegenfrage: Wo er denn hinwolle? Wir haben zwei Omas und drei Tanten im Angebot, alle mit Onkeln. Eine davon mit Kusine und Vetter. Es stellte sich heraus, dass er im Prinzip zum Haushalt seines Vetters tendierte. Es gab allerdings das objektive Problem, das jener ihn bei der letzten Begegnung aus nicht mehr genau zu ermittelnden Gründen mit den berüchtigten Worten verabschiedet hatte, er sei jetzt nicht mehr sein Freund und er wolle ihn „nie mehr“ sehen. So tendiere er im Moment zu Birgit und Uwe.

Auch gut. Ich willigte sofort ein und sagte ihm nur, er solle nach seiner Rückkehr höflichkeitshalber bei denen nachfragen, ob das auch klarginge.

*

Es war ein Montagabend im Civic Stadium von Eugene, Oregon. Die Temperaturanzeige neben der Anzeigentafel zeigte Fahrenheit 72. Nennt mich sentimentales Schwein, aber seltsam: Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich unsterblich.