piwik no script img

Archiv-Artikel

PETER UNFRIED über CHARTS Das Gute hat einen neuen Namen: VfB

Es war einmal ein Junge. Der liebte den VfB Stuttgart. Dann plötzlich nicht mehr. Das ist jetzt wirklich ungünstig

Es war einmal ein Junge von fünf Jahren. Den schleppte sein Großvater ins Stuttgarter Neckarstadion. Auf die Haupttribüne. Da hatte er seit vielen Jahren seinen festen Platz. Immer neben dem Herrn Karl. An diesem Samstag quetschten sie den Jungen dazwischen. VfB gegen Kaiserslautern. Horst Köppel war Kapitän, Gummimann Heinze stand im Tor. Endstand: 3:1.

Das war Anfang der Siebziger. Und selbstverständlich der klassischer Initiationsritus. Der Junge war von diesem Tag an auf ein Leben als VfB-Fan festgelegt.

Na ja, nichts Besonderes. Jeder Anhänger eines Loservereins kennt das: qualvolle Jahrzehnte voller Schmerzen, Leid und Hohn der anderen.

Außerhalb Schwabens galt der VfB ja auch noch als der unsympathischste Klub der Welt. War ja auch was dran. Der Präsident hieß Mayer-Vorfelder, wollte den Jungen zwingen, in der Schule das Deutschlandlied zu singen, und war auch sonst nicht leicht zu ertragen. Die besten Spieler holten meistens die Bayern, die größten Gurken der Bayern schoben sie dem VfB unter. Von Kögl jetzt mal abgesehen. Eines Tages kam auch noch Winfried Schäfer als Trainer.

Na ja, wer liebt, verlangt nichts. Oder nicht viel. Sozogen die Jahrzehnte ins Land. Aber dann, eines Tages, gar nicht lange her, da war die Liebe zum VfB: tot. Plötzlich. Finito. Nichts mehr da.

Na ja, zunächst nicht schlimm. Man hat neue Interessen und so weiter. Das Blöde ist nur, dass sich die Situation für alle unerwartet plötzlich verändert hat.

Hey: Überall ist alles ganz schrecklich verkrustet. Sinnloser Kampf zwischen Reformern und Blockierern. In dieser Woche hat man die handelsüblichen Angstfantasien und Hassprojektionen auf Herrn Florian Gerster abgeschissen. Es gibt aber praktisch nur hoffnungslose Fälle. Außer einem: Der VfB gilt als das möglicherweise einzige reformierbare Unternehmen in Deutschland. Unglaublich.

Er gewinnt ein Spiel nach dem anderen. Spielt eine bemerkenswerte Mischung aus Defensivstärke, Effizienz und Kombinationsfußball. Hat Spieler aus der Gegend, die den anderen genauso selbstsicher den Ball durch die Beine spielen, wie sie vor den Fernsehkameras schwäbeln. Will Profifußball auf höherem Niveau bieten, ohne die üblichen bankrottesken Gehälter zu zahlen. Grade hat der junge Hinkel aus Waiblingen verlängert. Aus Liebe zum VfB, im Glauben an dessen Möglichkeiten. Spielt er künftig für zwei Millionen Euro im Jahr. Obwohl er anderswo drei oder vier verdient hätte. Damit ist der verderbte Abzockerprofi ad aburdum geführt. Zumindest laut Presseberichten. Das Gute hat gesiegt, das antikapitalistische Moment ist in die Kathedrale des Kapitalismus vorgedrungen – das Herz eines Profifußballers.

Um es kurz zu machen: Es gibt offenbar weltweit keinen aufregenderen, sympathischeren, zukunftsfähigeren Fußballklub als den VfB. Selbst fragwürdige Opportunisten mit Zahnlücke oben kehren um und betteln öffentlich darum (vgl. Bild von gestern), Teil des Guten werden.

Und der kleine Junge von einst? Ständig sprechen ihn die Leute an. Sagen etwa: „Donnerwetter. Oder: „Bei euch geht’s ja ab.“ Oder: „Reschbäkt“.

Sie wissen nicht, dass man sich getrennt hat. Oder haben es vergessen. Wenn man das Problem erklärt, verstehen sie es nicht. Sie sagen: „Bist du halt jetzt wieder VfB-Fan.“ Man kehre doch auch zu seiner Ex-Alten zurück, wenn sie im Lotto gewonnen habe.

Na ja, das ist ja eh klar. Aber mit dem VfB geht das irgendwie nicht. Seine Psychiaterin erklärte ihm, es handele sich um eine „Entidealisierung“. Der VfB sei bei ihm einfach nicht mehr „libidinös besetzt“. Möglicherweise habe er eine „libidinöse Umbesetzung“ vorgenommen. Oder schlicht eine „perverse Triebstruktur“. Wolle nicht glücklich sein, sondern immer nur einen dunklen Hang zu Verlierern, zweifelhaften Verhältnissen und schlechtem Fußball ausleben.

Pervers? Ich frage Sie: Muss ich mir das bieten lassen? Nein. Ich glaub, ich semmel ihr eine rein, wenn sie noch einmal meinen VfL Wolfsburg beleidigt.

Fotohinweis: PETER UNFRIED CHARTS Fragen zu Charts? kolumne@taz.de Dienstag: Berhard Pötter über KINDER