PETER UNFRIED über CHARTS KINDER : Hurra! Noch eine Kinderkolumne!
Über 40 sein: Warum schreiben plötzlich so viele über ihre Kinder – und ist das nicht furchtbar?
Sonntagmorgen in Deutschland. Frühstück. Die einen essen sofort los und lesen dabei die FAS. Die anderen frühstücken auf Aufforderung. Wieder andere essen gar nicht und fragen einen mit so einer Mickymaus-Stimme Zeugs. Warum Fußballklubs Menschen haben, die sich als Wölfe verkleiden und dann auf dem Spielfeld rumrennen. Warum die Menschen Bush „schlagen“ wollten? Man darf doch nicht schlagen. Und warum es also nicht gut ist, dass er nicht geschlagen wurde.
Oops, I did it again!
Eigentlich darf ich darüber nicht reden. Es ist so: Ein jeder Kolumnist in diesem Land hat einen Kolumnen-Chef. Über meinen kann ich generell nicht klagen. Unlängst jedoch brummte er etwas in seinen Milchbart. Irgendwas über „Kindermund“ und was der so kundtue.
Tja, hihi, dachte ich: Sicher freute er sich auch über diese superlustigen Sprüche meines superlustigen Sohnes K. U. (4), den ich neulich wieder so ausgiebig zitiert hatte. Muss heute noch lachen, wenn ich dran denke.
Der Kolumnen-Chef freute sich nicht. Ob denn EIN offizieller, „in Anführungszeichen“: linker Kinder-Kolumnist nicht genug sei? Langsam schreibe anscheinend ein jeder Hansel über seine Kinder. Hier und überhaupt. Ob wir wüssten, was unser Problem sei? Mit „wir“ meinte er offenbar uns Alte, und unser Problem sei: wir erleben nichts mehr. GAR NICHTS MEHR. Und in unserer Verzweiflung reden wir zwanghaft über die Bälger.
30-Jährige! Ha! Was wissen die? Über Anführungszeichen? Und ein Leben des Sinnsuchens und Sinngebens? (Ich wusste damals auch nichts.)
Erstens hat nicht ein jeder einen sprechenden Kühlschrank. Oder die Gnade der ausländischen Geburt (vgl. SZ-„Wochenende“). Oder 100 Millionen Zeilen Hass in sich.
Gut, auch viele 50-Jährige hassen Kinderkolumnen. Aber: Worüber schreiben denn unsere kinderlosen alten Gastro-Linken? So manisch über die Protestkultur des Kampf-Fressens, dass man in Einzelfällen befürchten muss, dass sie bald platzen. Das kann es ja wohl auch nicht sein.
Manche sagen, Kinderkolumnen seien peinlich. Sagen wir so: Es ist ein Thema, das dem Autor viel abverlangt. Man muss aber das Positive sehen: Während überall gestrichen und abgebaut wird, steigt die Zahl der Kinderkolumnen stetig und wird zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik demnächst die Ein-Millionen-Grenze überschreiten. Damit ist Kinderkolumnismus im Prinzip die große und singuläre Wachstums- und Erfolgsgeschichte im politisch vereinten Deutschland.
Ein posthumer Triumph für Kohl? Keinesfalls. Wird damit eine schwarz-grüne Regierung vorbereitet? Schon eher.
Fakt ist, dass neben den Grünen sich auch Kinderkolumnen im postideologisch-linken, großstädtischen Milieu ein Potenzial erarbeitet haben. Vielleicht liegt es einfach daran, dass dieser Lebensbereich dort Relevanz hat. Ungleich größere als die Beschäftigung mit der Oper. Oder der Literatur. Vor allem aber, dass man sich zu dieser Relevanz bekennt. Nehmen wir Kreuzberg: Die Veränderungen im Kita- und Hortbereich bedrohen die soziale und kulturelle Qualität, die diesen Berliner Stadtteil für postideologische Familien zukunftsfähig gemacht hat. Weil eine Familie hier zwei Berufe, ambitionierte Ausbildung und Aufbewahrung der Kinder, Freizeit mit einer gefühlten Angekommenheit zusammenbringen kann. Oder konnte? Damit beschäftigen sich die Leute nicht nur. Das beschäftigt sie. Weil sie es ERLEBEN. Weil es wichtig ist.
Vielleicht wird man ja im Alter seltsam. Aber K. U. (4) sagt auch, es sei letztlich so, dass die rasanten Veränderungen dieser Welt gar nicht mehr anders zu begreifen sind als durch ernsthafte Beschäftigung mit der Jugend von heute – und deren halbliterarischer Verarbeitung. So sei es. Zur Linderung der Schmerzen den Alten Folgendes: Wenn man es konsequent zu Ende denkt, ist dann die heutige Kinderkolumne nicht eine Folge von 1968? Und euch 30-Jährigen dies: Gerade höre ich von der ersten Kinderkolumnistin, die nicht mehr will. Sie kriegt lieber noch ein Kind. Think about it.
Muss das wirklich sein? kolumne@taz.de MORGEN: Jenni Zylka über PEST & CHOLERA