PETER AHRENS über PROVINZ : Vollrausch mit Merz und Maut-Manni
Früher reichte man zum Kneipenpils Gespräche über Turban-Tore. Heute säuft man mit dem Steuerkonzept von Merz
„Wie konnte es eigentlich dazu kommen, dass man sich in Kneipen nur noch langweilt?“, fragte mein Kollege Eberhard nach dem vierten Astra. Drei Bier später einigten wir uns darauf, dass auch hieran Gerhard Schröder schuld sein muss. Da mag Maut-Manni Stolpe den Kanzler noch hundertmal als Helden bezeichnen. Der Aussage eines Mannes, der seine Berufung zum Bundesverkehrsminister nur dem Umstand verdankt, dass er so heißt wie eine Autobahnraststätte im Mecklenburgischen, sollte man vielleicht ohnehin nur begrenzt Bedeutung beimessen.
Obwohl Held gar kein schlechtes Stichwort ist. Weil: Darauf gekommen, dass der Schröder für die Kneipenlangeweile verantwortlich ist, sind wir, als wir aus dem „Wunder von Bern“ kamen und noch ein Bier trinken wollten. Unser verschüttetes Augenwasser war erst halb verdunstet und wir hätten zu gerne noch debattiert:
Ob deutsche Jungs tatsächlich weinen dürfen. Ob das arme Kaninchen hätte gerettet werden können, wenn Berti ihm damals schon eine Möhre gegeben hätte. Und ob es irgendwelche zufälligen Zusammenhänge gibt zwischen der Nebenrolle eines Spiegel-Reporters in dem Film und der wohlwollenden Filmkritik in dem Nachrichtenmagazin. Naja, solche Fragen eben.
Diskutiert haben wir das alles aber dann doch nicht. Weil am Nebentisch ohne Pause und mit Verve in der sich überschlagenden Stimme zwei Stunden lang darüber gestritten wurde, in welche Steuerklasse nach dem Vorziehen der rot-grünen Steuerreform denn am besten eingetreten werden müsse.
„Dem Fritz sein Wetter …“ „Ich sag dir, Steuerklasse vier und sechs …“ „Die Fußballszenen waren natürlich …“ „Der Spitzensteuersatz muss radikal gesenkt …“ „Als der kleine Junge mit den zwei eisgekühlten Flaschen Bier beim Boss …“ „Vergiss die Freibeträge nicht, DIE FREIBETRÄGE.“ Irgendwann hatten wir keine Lust mehr, dagegen anzubrüllen, und gingen. Nebenan ließ sich die Runde gerade von der Kellnerin eine Quittung geben.
Aber da selbst Fried- und Hohmännern und anderen hessischen Nervensägen, gar holländischen Trainern, in dieser Gesellschaft zurzeit zweite Chancen in Aussicht gestellt werden, haben Eberhard und ich es zwei Abende später noch einmal probiert. Eine andere Kneipe, diesmal tiefstes Altona. Aber wir kamen wieder nicht dazu, uns der Frage zu widmen, ob J.B. Kerner zu Recht in die Liste der 100 größten Deutschen hineingewählt worden ist. Weil zwei Tische weiter die Diskussion über die Renten tobte.
„Rechne mal durch, mit dem Eintrittsalter 67 …“ Irgendwann waren die Beteiligten bei Herrn Eichel und seinen verfehlten Stabilitätskriterien angelangt und schüttelten düster vorahnend den Kopf. Wie es weiterging, haben wir nicht mehr mitbekommen. Manchmal hilft nur Aufstehen, den Staub von den Stiefeln klopfen und zu Hause weitertrinken.
Früher, als die Welt noch gut war, also Willy Brandt noch keine Filmfigur war und das Volksparkstadion noch Volksparkstadion hieß, war es doch so: Wenn die Leute, also Männer, in die Kneipe gingen, wurde irgendwann der oberste Hemdknopf geöffnet und die Krawatte gelockert. Und dabei wurde über das Turban-Tor von Dieter Hoeneß gesprochen, über Dietmar Schönherr und Vivi Bach und zuweilen auch über körperliche, weibliche Attribute – was wir natürlich aufs Schärfste missbilligen. Am nächsten Nachmittag, nachdem die Leute aufgewacht waren, kauften sie sich die überregionalen Qualitätszeitungen und informierten sich dort über Themen wie Erbschaftsteuer und den kommunalen Finanzausgleich.
Heute wird das Steuerkonzept von Friedrich Merz zum Pils gereicht, manchmal im Zustand des Vollrausches auch Olaf Scholz zitiert. In den überregionalen Blättern steht stattdessen alles über Frauenunterwäsche, Weizen-Waldi und die Orgasmusprobleme deutscher Profiboxer. Keine Ahnung, ob das irgendetwas zu bedeuten hat. Müsste man mal in der Kneipe drüber sprechen.
Fotohinweis: PETER AHRENS
PROVINZ Fragen zur Kneipe?kolumne@taz.deMorgen: Kirsten Fuchsüber KLEIDER