PEKING INFORMIERT SKANDALÖS SCHLECHT ÜBER LUNGENKRANKHEIT SARS : Schweigen fürs Wirtschaftswunder
Es liegt in der Natur von Skandalen, dass sie von geringfügigen Fehltaten herrühren, deren wiederholte Leugnung ein später schwer zu kontrollierendes politisches Drama erzeugt. Einen solchen Musterskandal erlebt derzeit die Pekinger Gesundheitspolitik.
Die regionalen Behörden in der südchinesischen Provinz Guangdong haben eine neue, tödliche Form von Lungenentzündung monatelang der Öffentlichkeit verschwiegen. Das war insofern verzeihlich, als sich epidemische Erkrankungen, die unter der armen, hygienisch schlecht versorgten Landbevölkerung der Volksrepublik keine Seltenheit sind, in der Regel lokal begrenzen lassen. Doch inzwischen hat sich der gesundheitspolitische Fehler in der Provinz zum handfesten Pekinger Skandal gemausert. Er allein erklärt, weshalb in Singapur und Hongkong die Schulen schließen und die taiwanische Regierung von Reisen aufs Festland abrät, während der Rest der chinesischen Bevölkerung in der Volksrepublik von der neuen Krankheit nahezu nichts erfährt. Mag sein, dass manche Aufregung übertrieben ist und die freien chinesischen Medien es sich außerhalb der Volksrepublik allzu leicht machen, wenn sie den bellizistischen Tenor ihrer Irak-Berichterstattung kurzerhand auf die Heimatfront gegen den Virus übertragen. Doch zunächst einmal hat jede Regierung die neue Krankheit ernst zu nehmen und ihre Bürger über ihre Risiken zu informieren. Genau das vermeidet Peking. Nur an einem Tag durften die Medien der Volksrepublik in der vergangenen Woche über SARS berichten. Seitdem herrscht wieder Stillschweigen – und den meisten Chinesen wird die Möglichkeit genommen, angemessene vorbeugende Maßnahmen zu treffen.
Dahinter steckt die Sorge der Regierung, dass das mühsam erworbene Selbstbild vom Wirtschaftswunderland Schaden nehmen könnte. Nicht nur die SARS-, auch die Aidsgefahr wird bis heute kleingeredet. Hier bricht Peking mit einer alten Devise Deng Xiaopings: „Entwicklung ist die harte Wahrheit.“ Der Satz war ganz medizinisch – als Skandalprophylaxe gemeint. GEORG BLUME