: P O R T R A I T Vom Volkssänger zum Politpriester
■ Der Sikh–Geistliche Darshan Singh, genannt „Ragi“, exkommunizierte in der vergangenen Woche den Ministerpräsidenten des indischen Bundesstaates Punjab / In nur zwei Jahren stieg Singh vom populären Sänger zum politischen Führer auf
Vor wenigen Jahren noch war der heute 46jährige Darshan Singh mit dem Beinamen „Ragi“ ein einfacher Volkssänger. Wie viele andere Sikhs im nordwestindischen Bundesstaat Punjab wurde er 1984 nach dem Sturm der Regierungstruppen auf den Goldenen Tempel von Amritsar politisch aktiv, bei dem die Armee den damaligen Führer der fundamentalistisch–militanten Sikhs, Bhindranwale, erschoß und ein beispielloses Blutbad unter den Gläubigen in dem Sikh–Heiligtum anrichtete. Seither stellte Darshan Singh seine Kunst und Popularität in den Dienst des Protestes gegen die Zentralregierung. Er zog von Dorf zu Dorf und von Tempel zu Tempel und geißelte mit religiös–politischen Liedern die „neuen Moghuln in Delhi“, eine Anspielung, die sich auf die brutalen Religionskriege der islamischen Eroberer gegen die Sikhs im 17. Jahrhundert bezog. Seine Zuhörer erinnerte er mit seinen Liedern an ihre Tradition als Kämpfer und Märtyrer: „Sei stolz darauf, ein Sikh zu sein, bewaffne dich und gib dein Leben, um den Glauben und die Tempel zu verteidigen“, lautete seine gesungene Botschaft. Zum erklärten Feind Barnalas, des nun aus der Sikh–Gemeinschaft ausgestoßenen Ministerpräsidenten von Punjab, wurde Darshan Singh aber erst Mitte letzten Jahres, nachdem der Ministerpräsident eine weitere Aktion der Sicherheitskräfte gegen den Goldenen Tempel angeordnet hatte. Seither attackierte Ragi Barnala in Reden und Liedern als Marionette Delhis und Verräter an der eigenen Religionsgemeinschaft - ein Urteil, das von einer wachsenden Anzahl von Sikhs im Punjab geteilt wurde. Bereits vor seiner Exkommunizierung in der vergangen Woche hatte der Ministerpräsident den Kampf um die politische Führung der Sikhs verloren: seine politischen Projekte waren gescheitert, die legale Sikh–Partei Akali Dal gespalten, eine Vielzahl militanter Gruppen terrorisierte den einst prosperierenden Punjab. Angesichts dieser Situation fühlten sich die Hohenpriester der Sikhs berufen, Kraft ihres religiösen Amtes politisch Ordnung zu schaffen. Das erste Opfer dieser neuen Vorgehensweise der Priester wurde Barnala. Die Rolle der Führergestalt wird heute von vielen am ehesten Darshan Singh Ragi zugetraut. Seine Reden und Lieder weisen ihn als radikalen traditionsbewußten Sikh aus, doch auch zahlreiche eher gemäßigte Politiker der Akali Dal setzen heute auf ihn. Mit seinem Charisma und einer angeblich hypnotischen Ausstrahlung gelingt es ihm, Zuhörer unabhängig von der politischen Überzeugung in seinen Bann zu schlagen. Welchen Beitrag Darshan Singh als Balladensänger zu Barnalas politischem Niedergang leistete, ist schwer zu ermessen. Doch als „jathedar“, als frisch gewählter Hohepriester des Goldenen Tempels, hat er mit der Exkommunizierung Barnalas der schwachen Landesregierung des Punjab den Todesstoß versetzt. Uwe Hoering
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen