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Ost-Wirtschaftskraft ist noch gering

■ Bruttosozialprodukt 1991 um 3,2 Prozent gewachsen/ Westdeutsche Konjunktur gedrosselt/ Erstmals statistischer Ost-West-Vergleich möglich/ Fazit: Ostdeutschland braucht weiter Westgeld

Frankfurt/Main (dpa/taz) — Das Wirtschaftsgeschehen in Deutschland stand 1991 eindeutig im Zeichen der Vereinigung und der weltweiten Konjunkturabschwächung. Das verminderte Wachstum des Bruttosozialprodukts von real 3,2 Prozent (1990: 4,5) in Westdeutschland sowie die Verdoppelung der staatlichen Schuldenaufnahme auf fast 87 Milliarden DM seien dafür die entscheidenden Kennzahlen, erklärte der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Egon Hölder, gestern in Frankfurt.

Erstmals ermöglicht das von den Statistikern vorgelegte Zahlenmaterial für ganz Deutschland auch einen Vergleich der Wirtschaftskraft in beiden Teilen der Republik: So hat im ersten vollen Jahr der staatlichen Einheit Ostdeutschland mit 20 Prozent der Bevölkerung zum gesamten Bruttosozialprodukt von 2.807 Milliarden DM lediglich 6,9 Prozent oder 193 Milliarden DM beigetragen. Nach Darstellung von Hölder wurden in den neuen Ländern 87 Prozent mehr Waren und Dienstleistungen verbraucht oder investiert, als dort im Berichtsjahr neu geschaffen wurden. Diese Produkte wurden überwiegend von der alten Bundesrepublik bereitgestellt.

Die eigene Wirtschaftsleistung der Ex-DDR habe nicht einmal ausgereicht, um den privaten Verbrauch von 196 Milliarden DM zu decken. Diese Zahlen verdeutlichen nach Meinung des Chefstatistikers anschaulich, „auf welche wirtschaftliche Hilfe die Bevölkerung und die Unternehmen in den neuen Ländern noch angewiesen sind“. Zugleich werde klar, welche Hilfen für die Übergangsländer in Osteuropa und die ehemalige Sowjetunion notwendig seien.

Ungünstig sieht auch die Relation bei der Arbeitsproduktivität aus. In Westdeutschland produzierte jedeR Erwerbstätige Waren und Dienstleistungen für 88.800 DM, in Ostdeutschland waren es nur 26.300 DM pro Kopf. Das Bruttomonatseinkommen der West-ArbeitnehmerInnen betrug durchschnittlich 3.720 DM gegenüber 1.660 DM in Ostdeutschland. Damit lag dort das Verdienstniveau 55 Prozent niedriger als in den alten Ländern.

Das Sozialprodukt ist ein Maß für die wirtschaftliche Leistung einer Volkswirtschaft während eines Jahres. Es gibt den Wert aller produzierten Waren und Dienstleistungen an, jedoch ohne die Güter, die als Vorleistung bei der Produktion verbraucht werden, weshalb es als alleiniger Maßstab für den Wohlstand durchaus zu kritisieren ist. So gehen Umweltzerstörung sowie Hausarbeit und Erziehungsarbeit nicht in die Rechenwerke der Statistiker ein. Und ein Totalschaden im Straßenverkehr mit einem Schwerverletzten wirkt sich „wohlstandsmehrend“ aus, weil danach die Autoproduktion steigt und das Krankenhaus eine finanziell meßbare Dienstleistung erstellt.

Weil es für die ehemalige DDR keine Vergleichszahlen gibt, können die Statistiker auch keine entsprechenden Veränderungen — 1991 gegenüber 1990 — angeben. Konjunkturpolitische Aussagen lassen sich deshalb wiederum nur für Westdeutschland machen.

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