Osman Engin Alles getürkt: Die Menschenkenner
Schnell klettere ich in den Regionalexpress nach Hamburg und haste durch die engen Gänge. Als ich ein völlig leeres Abteil entdecke, schlägt mein Herz sofort höher, beim Hineinstürzen schlägt mein Kopf gegen die harte Türkante.
Mit völlig leer meine ich allerdings nur, dass das Abteil menschenleer ist – ansonsten sieht es wie nach einem Bombenangriff aus. Genauer gesagt: wie nach einem Bombenangriff auf einen Zeitungskiosk! Überall liegen Zeitungen und Zeitschriften verstreut. Zwar sammle ich alles ein, doch kann ich dabei an keinem bedruckten Stück Papier vorbeischauen, ohne es zu lesen.
Ich fange an mit dem Corriere della sera. Die paar Bilder sind nämlich schnell geguckt. Und um zu wissen, dass Frau Meloni die Migranten nicht sonderlich mag, dafür brauche ich auch kein Italienisch.
In dem Moment kommen zwei Deutsche rein und setzen sich mir gegenüber in die äußerste Ecke hin. „Nun sind die Spaghettis so lange in Deutschland und können immer noch nicht Deutsch lesen“, knurrt der eine zum anderen.
„Dass die mittlerweile überhaupt lesen können, ist doch Fortschritt genug“, lästert sein Kumpel zurück.
Ich hole flink die Hürriyet hervor und stürze die beiden Lästerer in eine erste leichte Sinnkrise. Nach kurzer Verwirrtheit flüstert Lästerer 1 zu Lästerer 2: „Das ist ja mal wieder typisch! Der Spaghetti-Fresser hat lieber Türkisch gelernt als Deutsch!“
„Vielleicht ist er ja ein Döner-Fresser, der Italienisch gelernt hat“, meint Lästerer Nr. 2 und beißt in seinen mitgebrachten, dampfenden Döner rein. Womit er mich jetzt auch irgendwie durcheinander bringt. Meint er mit Döner-Fresser nun die Türken oder die Deutschen?
Also ziehe ich aus dem Stapel genüsslich die völlig zerknitterte Bild heraus. Die beiden Experten in Sachen Menschenkenntnis gucken daraufhin ganz schön doof aus der Wäsche. „Um die zu lesen, brauchst du wirklich kein Deutsch zu können“, schmatzt der eine und faltet seine eigene Bild-Zeitung auf.
Um den beiden den finalen Gnadenschuss zu verpassen, fische ich mir die taz heraus. Da glotzen sie sich verdutzt und hilflos an, fassen sich aber dann doch wieder schnell.
„Das ist ja mal wieder typisch“, keift Nummer 1, „kaum können die Ausländer ein bisschen Deutsch, sofort lesen sie nichts als dämliches, linkes Zeug!“
Mittlerweile finde ich die Ansichten meiner Mitfahrer recht amüsant und greife deshalb nach den etwas geschundenen St.-Pauli-Nachrichten. „Das ist mit Sicherheit ein ganz armer Freier, der auf die Reeperbahn will! So wie der aussieht, hat er es auch dringend nötig“, diagnostiziert Lästerer Nr. 1.
Nach einer halben Stunde müssen die beiden Menschenkenner leider irgendwo in der Pampa aussteigen. „Halt, halt, warten Sie“, rufe ich ihnen hinterher und schenke ihnen die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Psychologie Heute. Mit dem Titel „Vorurteile – und wie man sie wieder los wird“.
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