: Oskars Heimkehr zu Karl Marx
Eigentlich wollte Oskar Lafontaine in Chemnitz Montagsdemonstranten besuchen und aus seinem Buch vorlesen. Es wurde der Wahlkampfauftakt für das neue Linksbündnis
CHEMNITZ taz ■ Oskar mit dem „Nüschel“, dem riesigen Chemnitzer Marx-Kopf, im Rücken. Oskar hinter und unter PDS-Fahnen auf dem Podium und im Zug der Demonstranten. Oskar, der hartnäckig schweigt, zu Rufen wie: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ Die Zeiten ändern sich, und Oskar Lafontaines „ehemalige Freunde“ auch.
Die Veranstalter vom Chemnitzer Montagsdemo-Aktionsbündnis „Aus Wut wird Widerstand“ wollten diese Kundgebung ausdrücklich nicht als Wahlkampfauftakt verstanden wissen. Auf der Einladung stand etwas von Selbstermutigung, der Regierung zu zeigen, „dass es uns noch gibt“.
Lafontaine, eigentlich nur zu einer Lesung eingeladen, ließ sich allerdings nicht nehmen, seinerseits zu zeigen: Auch ihn gibt es noch. Als die halbe Doppelspitze des neuen Linksbündnisses nach einer flammenden Rede unter lautem Beifall vom Podest stieg, schien der Beweis erbracht: Im bevorstehenden Wahlkampf müssen sich Gysi und Lafontaine nicht auf eine Ost-West-Arbeitsteilung festlegen.
„Der Oskar erlebt hier in Chemnitz seine politische Wiederauferstehung“, raunte ein älterer Zuhörer – eine späte Anerkennung für den Mann, dem seit seinen Warnungen vor den finanziellen Belastungen durch die deutsche Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern eine gewisse Ostskepsis nachgesagt wird. Ob Gregor Gysi wohl mehr als die 1.500 Demonstranten angelockt hätte?
Dennoch waren die PDS-Fahnen in Chemnitz eindeutig in der Überzahl. Die Landesverbände der WASG setzen sich im Osten meist nur aus ein paar Dutzend Mitgliedern zusammen. Ein einziges Fähnlein mit dem an das SED-Bonbon gemahnenden Händedruck erinnerte an das neue Linksbündnis mit der WASG. Und auch Lafontaine war zunächst eher verhalten empfangen worden. Die Vorredner schienen an Schärfe bereits ausgereizt zu haben, was das unzufriedene Volk hören wollte. Es spielte dabei keine Rolle, dass auch ein Thomas Rudolph vom Leipziger Montagsdemo-Aktionsbündnis sprach, das mit der Wahlalternative überkreuz liegt.
Doch schon Lafontaines erste Attacken gegen den „Finanzkapitalismus, der letztlich die Demokratie zerstört“ und gegen Abgeordnete als „Handlanger der Wirtschaft“, die über die Köpfe des Volkes hinweg „Schandgesetze“ verabschiedetet hätten, fanden grimmigen Beifall.
Der Beifall, den der Redner dem Nein der Franzosen und Niederländer zur EU-Verfassung zollte, rückte ihn allerdings in die Nähe der düsteren schwarz-weiß-roten Fahnenschwenker, die sich anschließend in den Demonstrationszug einschlichen. Diese Verfassung führe zu Dumping bei Steuern und Sozialstandards, die hier „Arbeitsplätze wegkonkurrieren“, rief Lafontaine. Und: „Der Staat ist verpflichtet, seine Bürger zu schützen, wenn ihnen Fremdarbeiter die Arbeitsplätze wegnehmen!“ Das stieß beispielsweise der 18-jährigen sächsischen PDS-Abgeordneten Julia Bonk sauer auf. „Damit vergrault er Intellektuelle, dann muss Lafontaine schon konsequent links bleiben“, kritisierte sie.
Konsensfähiger waren Lafontaines Attacken auf die Programme fast aller etablierter Parteien, die in den Denkfabriken der Wirtschaft entstanden seien. Die Besitzenden seien verpflichtet, sich an den Aufgaben des Staates zu beteiligen, forderte der Ex-SPD-Chef. Es sei eine Mär, dass der Sozialstaat nicht mehr bezahlbar sei. Lafontaine übersprang Marx und erinnerte gleich an Adam Smiths Erkenntnis, dass sich die Interessen des Kapitalisten nie mit denen der Allgemeinheit deckten. Die öffentliche Moral sei verkommen und verrottet. Dafür gab es langen Applaus von den Zuhörern. Mehr Zuspruch fand nur noch Lafontaines Medienschelte – in der er den Spiegel zum „Leitorgan des Neoliberalismus“ ernannte.
Etwa 400 Hörer warteten anschließend auf die Lesung aus Lafontaine Buch „Politik für alle“. Zahlten fünf Euro, um noch einmal die Predigt über die „deutsche Ausnahmesituation“ anzuhören.
Zum Abschied dann: Menschentrauben, Autogrammwünsche. Sogar in Brillenetuis durfte Lafontaine seine Unterschrift setzen. MICHAEL BARTSCH