■ Oskar Lafontaine, nüchterne Zahlen und die Einheit: Demokratie als Verfahren
Nüchtern betrachtet, hat Oskar Lafontaine recht, wenn er die Verlangsamung der Anpassung der Ostlöhne und vor allem der Ostrenten an das Westniveau verlangt. Und zwar nicht nur aus den von ihm genannten Gründen des Kaufkrafttransfers, dem kaum Produktivität entspricht. Schon jetzt bezieht die durchschnittliche Ost-Rentnerin eine höhere Rente, als ihre Kollegin im Westen, und zwar einfach deshalb, weil sie in der Regel auf eine perfekte, eben realsozialistische Arbeitsbiographie mit vierzig und mehr Arbeitsjahren verweisen kann. Ist die 100prozentige Angleichung erst einmal vollzogen, dann werden die Ost- Rentner bei etwa 120 Prozent des West-Rentners liegen. Da es im Osten aber weder eine Rentenkasse gibt noch die Produkte der rentenwirksamen Beschäftigungen ein irgendwie geartetes Mehrprodukt hervorgebracht haben – im Gegenteil, die Treuhanderöffnungsbilanz ist ebenso defizitär wie die Umweltbilanz, was alles noch zusätzliche Kosten bedeutet – muß die Finanzierung dieser kapitalistischen Form einer sozialistischen Ehrenrente allerdings durch die Westrentner erbracht werden – in Form von Leistungsverzichten. Klar, daß Lafontaines Parteikollegen im Osten sauer sind, wenn sie diese Rechnungen hören, und nichts mehr wissen wollen von Transfersummen West in Richtung Ost (insgesamt etwa 180 Mrd. DM per anno). Den sozialen Sprengstoff und die künftigen Verteilungskämpfe, die sich hinter den nüchternen Zahlen verbergen, nehmen sie einfach nicht zur Kenntnis. Lieber halten sie es mit chimärisch nebelhaften Phrasen wie der von der Herstellung der inneren Einheit. Lafontaines Vorstoß durchbricht ein Tabu, daß nämlich alle Deutschen eine im Grundsatz einheitliche Interessenlage hätten, die allenfalls durch vertikale soziale Schichtungen differenziert würde, keinesfalls aber durch horizontale, also beispielsweise solche zwischen Ost und West. Die Fakten müssen aber auf den Tisch gelegt, offen die vielfältig überkreuzten sozialen Interessensgegensätze zur Kenntnis genommen werden, will man politische Verlaufsformen für deren Ausgleich finden.
In einer modernen formalen Demokratie kann Politik nicht anders, als politisch legitimiert werden, d.h. als konkrete, situationsangemessene Ausformulierung der Freiheits- und Bürgerrechte des einzelnen auf Grundlage eines nüchternen Abwägens von Zwecken und Mitteln. Die Demokratie als Verfahren verträgt keine symbolische Überfrachtung, denn sie wäre in diesem Fall gerade nicht mehr pragmatisch handhabbar. Wer sie mit symbolischem Tiefgang unterfüttern will, der bastelt heimlich schon an ihrer Aufhebung. Ulrich Hausmann
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