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Orientierungslos im Nebel der GegenwartBegrifflose Welt

Knapp überm Boulevard

von Isolde Charim

Denken bedeutet, unsere Zeit in Begriffe zu fassen. Daran sind wir gewöhnt. Seit Hegel. Was aber passiert, wenn die Zeit und die Begriffe auseinanderdriften? Wenn die Begriffe der Welt nicht mehr habhaft werden können, weil sich diese – die Welt – so verändert? Dann werden die Begriffe, die wir im Kopf haben und die doch die Welt für uns strukturieren, dann werden sie Makulatur, die Begriffe. Gerade jene in linken Köpfen. Machen wir mal eine kleine kursorische Bestandsaufnahme.

Da ist etwa die „Toleranz“. Ein schwieriger Begriff. Aber trotz allem Paternalismus, der da mitschwingt, ein wichtiger Kompass im linken Universum. Diese Toleranz ist plötzlich herausgefordert durch alle Arten von Grenzen. Hat die ­Toleranz eine Grenze? Hat sie die neueste, die berüchtigste, die O-grenze? Eine Obergrenze des Machbaren, des Verkraftbaren, des Bewältigbaren? Wird die Qualität der Toleranz durch die reine Quantität ausgehebelt, in die Schranken gewiesen, auf ein Maß gestutzt? Ist Toleranz quantifizierbar – bis hierher und nicht weiter? Und was ist jenseits davon, jenseits der Grenze, jenseits der O-Grenze – hört sie dann auf, die Toleranz?

Nehmen wir einen anderen Begriff: die Political Correctness. Diese ist die Errungenschaft einer neuen Linken. Jener Linken, die um Minderheitenrechte kämpft, um eine Ausdehnung des Begriffs der Gleichheit, die alle Benachteiligten umfasst. Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde sagen nun, der Antisemitismus der Flüchtlinge werde im Namen der Political Correctness verschwiegen. Egal ob das stimmt oder ein unzulässiger Generalverdacht ist – für die Political Correctness ist es fatal. Wenn sie verdächtigt wird, nicht mehr zu schützen, sondern ein Mittel für die Aufhebung jenes Schutzes zu sein, den sie doch gewähren sollte. Wenn gerade im ihrem Namen Rassismen, Vorurteile unangetastet blieben. Wenn es also in sein Gegenteil kippen kann, dann ist es zumindest ramponiert, das Konzept.

Die Begriffe, sie werden Makulatur

Ein anderer Begriff, der zusehends ins Wanken gerät, ist die Kausalität. Also nicht die naturwissenschaftliche. Aber das Verhältnis von ökonomischen, sozialen Ursachen und politischen Wirkungen. Eine Grundachse linken Denkens. Das Konzept, soziale Missstände würden politische Reaktionen hervorrufen. Es besagte zweierlei: zum einen, dass da ein rationales Verhältnis vorliegt. Dass sich also politisches Handeln auf ökonomische Ursachen zurückführen, erklären lässt. Zum anderen versicherte die Annahme eines solchen kausalen Verhältnisses, dass die Verbesserung der sozialen Schieflagen auch Auswirkungen auf das politische Handeln, auch auf das radikale, habe. Nun erleben wir aber immer wieder Situationen einer völligen Unangemessenheit: terroristisches Handeln, das jeder Kategorie von Kausalität widerspricht. Der islamistische Terror ist kein pervertierter Ausdruck einer Ungerechtigkeitserfahrung. Er entzieht sich vielmehr jeder politischen Logik und jeder Kausalität. Er lässt sich durch keinerlei Ursachenerklärung rationalisieren. Was im Umkehrschluss auch heißt, dass die Behebung realer sozialer Missstände alleine das Problem nicht lösen kann.

Ein anderer Begriff in dieser Liste ist jener des „Staates“. Wenn wir heute eine Terrorvereinigung als „Staat“ bezeichnen, wenn wir also deren Selbstverständnis übernehmen, stellen wir dann nicht ebendieses Konzept infrage? Nicht nur verleiht diese Bezeichnung einer kriminellen Bande eine Aura der Legitimität – zugleich wird auch unsere Vorstellung des Staates als Garanten der bürgerlichen Freiheiten unterlaufen. Die Wiener Raumplanerin Sibylla Zech weist darauf hin, wie die innovativsten Konzepte einer grenzübergreifenden Governance – also nichtterritoriale Steuerungsmodelle – sich auf erschreckende Weise in den Praktiken des „IS“ spiegeln würden.

Wir haben heute nicht mehr die Hegel’sche Selbstgewissheit, die meint: Wenn die Welt nicht mehr zu den Begriffen passt, umso schlimmer für die Welt! Wir brauche neue Begriffe, um uns im Nebel der Gegenwart neu orientieren zu können.

Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien.

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