Opposition fordert Rechenschaft

■ Gab es am 7.Oktober einen Toten in Ost-Berlin? / Dokumentation vorgelegt / Neue Demonstrationen

Berlin (taz/dpa/ap) - Nach den Demonstrationen vom Wochenende mit 100.000 Beteiligten rechnete man in Kirchenkreisen der DDR für gestern abend mit erneuten Großkundgebungen für Reformen und mehr Demokratie, unter anderem in Leipzig, Dresden, Ost-Berlin, Greiz, Halle und Magdeburg. Unterdessen wächst der Druck auf die SED-Führung, die für die Polizeiübergriffe Anfang des Monats Verantwortlichen zu bestrafen.

Auf einer Pressekonferenz von Bürgerrechtlern in Ost-Berlin wurde eine Dokumentation der Mißhandlungen von Demonstranten durch die Polizei zum 40. Jahrestag der DDR vorgestellt. Bei dieser Gelegenheit hieß es, mindestens ein Mensch sei infolge des Polizeieinsatzes ums Leben gekommen. In den Protokollen ist von einem jungen Mann die Rede, der von einem Polizei-LKW angefahren und überrollt worden ist (siehe Seite 3). An der Pressekonferenz nahm überraschenderweise auch der stellvertretende Generalstaatsanwalt der DDR, Klaus Voß, teil. Er sicherte erneut die Strafverfolgung von für Übergriffe Verantwortlichen zu, falls sich solche fänden. Die BürgerrechtlerInnen drängten erneut auf eine öffentliche Untersuchung.

Der evangelische Bischof von Dresden, Johannes Hempel, hat die Regierung aufgefordert, sich öffentlich für die Brutalität der Sicherheitskräfte zu entschuldigen, verlautete aus Kreisen der evangelischen Kirche. Die Opposition in der DDR fordert weiterhin die Freilassung der bei früheren Demonstrationen festgenommenen Personen. Sie setzt sich außerdem dafür ein, daß die Polizisten und Milizangehörigen, die den Einsatz gegen die Demonstranten verweigert haben sollen, wieder auf freien Fuß kommen.

Vor der traditionellen Montagsdemonstration in Leipzig fanden wieder Friedensandachten, diesmal in sechs Kirchen, statt. Schon am frühen abend waren Zehntausende auf den Straßen der Leipziger Innenstadt. Der Leipziger Stadtfunk das Sprachrohr der Stadtverwaltung - hatte per Lautsprecher zu Diskussionsveranstaltungen in staatlichen Gebäuden etlicher Fortsetzung auf Seite 2

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Stadtteile aufgerufen - meist zeitgleich mit den Andachten. Bürgerrechtler in Ost-Berlin riefen für den heutigen Dienstag zu einer Protestdemonstration gegen den neuen Generalsekretär Krenz auf. In einem anonymen Flugblatt wird Krenz unter der Überschrift „Zu dumm zu agieren, aber ein ganzes Land regieren“ vorgeworfen, er sei unter anderem für Wahlfälschung und für Übergriffe von Sicherheitskräften gegen Demonstranten verantwortlich. Außerdem habe er das Massaker an der Demokratiebewegung in China befürwortet. Krenz soll heute von der Volkskammer auch zum

Nachfolger von Honecker als Staatsratsvorsitzenden und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats gewählt werden. Die Volkskammer tritt am Dienstag deshalb zu ihrer zehnten Tagung zusammen.

Die Liberaldemokratische Partei (LDPD) der DDR hat der SED einen Forderungskatalog vorgelegt, in dem unter anderem die Anerkennung der Demokratiebewegung Neues Forum gefordert wird. Das Papier, das am Sonntag in Berlin bekannt wurde, schließt mit der Bemerkung, die DDR-Liberalen seien bereit, Mitglieder des Neues Forums in die eigenen Reihen aufzunehmen „und auf eigenen Listen kandidieren zu lassen“.

Weitere Forderungen in dem Papier

sind die Wiedereingliederung Ausgereister, garantierte Reisemöglichkeiten mit finanziellen Hilfen oder die sofortige Normalisierung des Reiseverkehrs mit sozialistischen Ländern. Außerdem verlangen die Liberalen eine Änderung des Strafgesetzbuchs, um Behördenwillkür auszuschließen. Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche solle normalisiert werden. Die führende Rolle der SED und die damit verbundene Übernahme staatlicher Aufgaben solle überprüft werden. In den Volksvertretungen solle die Bevormundung durch die SED beendet werden. Im wirtschaftlichen Teil verlangen die Liberalen eine Durchforstung der Subventionen und die Förderung privater Initiativen.

Die personellen Umstellungen in

der SED-Spitze scheinen noch nicht abgeschlossen zu sein. Nach 'Bild'-Informationen werden zwei Politiker, die einem Reformkurs aufgeschlossen gegenüber stehen sollen, ins Politbüro aufsteigen. Als Nachfolger für Mittag werde Alexander Schalck-Golodkowski (57) neuer ZK-Sekretär für Wirtschaft, Mitglied des Politbüros und auch erster stellvertretender Ministerpräsident eingesetzt. Schalck -Golodkowski hatte mit Franz-Josef Strauß den ersten Milliardenkredit für die DDR eingefädelt. Für das Ressort „Innere und äußere Sicherheit“ ist als Nachfolger von Krenz nun Markus Wolf vorgesehen. Der Generaloberst a.D. Wolf war früher Spionagechef der DDR und sympathisiert mit Gorbatschows Reformpolitik.