Opfer der US-Zeitungskrise: Der Niedergang der New York Times

Die "New York Times" ist eine Marke für unabhängigen Qualitätsjournalismus. Doch ihr Fortbestand ist gefährdet - vielleicht ist die Zeitung künftig nur noch im Internet zu lesen.

NYT-Wolkenkratzer in Manhattan: Die Zeitung hat 1 Milliarde Dollar Schulden angehäuft. Bild: dpa

Das Symbol: Die New York Times steckt tief in der Krise: Schon in den kommenden Monaten könnte die mit 1 Milliarde Dollar Schulden belastete Zeitung ihren Betrieb einstellen müssen. Die Schwierigkeiten der renommiertesten Qualitätszeitung der USA sind Symbol einer enormen Krise auf dem amerikanischen Zeitungsmarkt.

Die Einsparungen: Der ohnehin bereits dramatische Rückgang der Auflagen und des Anzeigengeschäfts hat sich durch die Finanzkrise noch verschlimmert - beinahe alle großen Zeitungen des Landes stehen am Abgrund. Die Branchenwebsite "Editor and Publisher" befürchtet, dass bis Ende 2010 die meisten amerikanischen Städte keine Zeitung mehr haben. So hat im Dezember die Tribune Company, eine der größten Zeitungsketten des Landes, mit so wichtigen Blättern wie der Chicago Tribune und der Los Angeles Times Bankrott angemeldet. Ihren Konkurrenten, den Verlagsgruppen McClatchy und Gannett, geht es kaum besser. Überall wird panisch gespart, um das Schlimmste so lange wie möglich hinauszuzögern. Knapp 16.000 Stellen gingen bei amerikanischen Zeitungen im Jahr 2008 verloren. Die Los Angeles Times, einst die Hauptkonkurrenz der New York Times, hat ihre Belegschaft um die Hälfte reduziert.

Die Einstellungen: Die Zeitungen in der Autostadt Detroit - etwa die Detroit Free Press - werden nur noch an drei Tagen der Woche ausgeliefert. Noch weiter geht der Christian Science Monitor: Die überregionale, nichtchristliche Tageszeitung gab im Oktober 2008 bekannt, dass sie ihre Printausgabe ab April 2009 einstellen und nur noch online erscheinen werde. Die New York Times versucht gegen diesen Trend, sich mit der Aufrechterhaltung eines hohen Qualitätsanspruchs und ohne große Einsparungen über die Runden zu retten.

Nathan Finkelstein* kann kaum seinen Stolz verbergen, wenn er dem Besucher seine Arbeitsstätte vorführt. Und er ist ja auch wirklich schick, der Wolkenkratzer der New York Times an der 41. Straße in Manhattan, in den die Redaktion vor knapp zwei Jahren eingezogen ist. In der Cafeteria im 15. Stock könnte man es den ganzen Tag aushalten. Es ist ein heller freundlicher Raum, zwei Stockwerke hoch, mit einer balkonartigen Zwischendecke, auf der Redakteure an Bistrotischen sitzen und Cappuccino trinken. Man lässt sich auf elegantem, klassisch-modernem Mobiliar nieder und hat durch die High-Tech-Scheiben mit automatischer Tageslichtanpassung einen Panoramablick vom Times Square bis hinüber zum Hudson.

Er verbringe viel Zeit hier, schwärmt Finkelstein, um vom Telefon wegzukommen, nachzudenken, mit Kollegen zu diskutieren. Man merkt Finkelstein an, wie gerne er hier ist, in diesem schönen neuen Gebäude und bei seiner New York Times, wo er die letzten 15 Jahre seines 30-jährigen Berufslebens verbracht hat, zunächst als Redakteur für Politik und seit fünf Jahren als Redakteur für Lifestyle. "Das ist die beste Zeitung der Welt, und ich wollte nie irgendwo anders sein", sagt er. Noch bis vor wenigen Wochen war der 51-jährige davon überzeugt, dass er den Rest seines Berufslebens bei der Times verbringen würde. Doch allmählich schleicht sich bei ihm die Befürchtung ein, dass er sich vielleicht bald nach etwas anderem umsehen muss.

Die New York Times ist in Not geraten, so sehr, dass man sogar darüber nachdenkt, auf das neue Gebäude eine Hypothek aufzunehmen. Die noch bis vor kurzem strahlend geglaubte Zukunft muss enorm beliehen werden, um in der Gegenwart zu überleben. "Ich habe noch nicht wirklich einen Plan B", sagt Finkelstein. "Aber ich setze mich langsam mit der Tatsache auseinander, dass ich nicht mehr daran vorbeikomme, einen Plan B zu entwickeln."

Keiner der noch immer rund 1.300 Redakteure der Times kann sich mehr vor dem Gedanken drücken, zu einer anderen Redaktion zu gehen oder gleich den Beruf zu wechseln. Bis vor einem Jahr noch dachte man, die "Gray Lady" sei eine so stabile Institution, dass sie den komplizierten Übergang ins digitale Zeitalter schon meistern werde. Wer sollte das schließlich schaffen, wenn nicht die Times? Wenn sie untergeht, dann geht der Journalismus als solcher unter, lautete die Stimmung nicht nur in der Redaktion, sondern in der ganzen Branche. Ein Untergang der Times aber, das war einfach nicht vorstellbar.

Mittlerweile ist es aber vorstellbar geworden. "Es kann alles passieren, jederzeit", sagt Finkelstein, während er nachdenklich auf den Verkehr an der 41. Straße hinunterblickt. "Man darf sich das gar nicht so genau überlegen, sonst ergreift einen entweder eine tiefe Depression oder die nackte Panik." Meistens, sagt Finkelstein, konzentriere er sich deshalb lieber einfach auf seinen Job. Und die meisten Kollegen täten das genauso.

Nur ab und zu brechen hier, an den Tischen der Kantine oder an den Wasserspendern auf den Fluren, die Diskussionen über die Lage dieser Zeitung und des Zeitungswesens im Allgemeinen los. Wie etwa Ende Januar, als die Monatszeitschrift The Atlantic in einem Artikel über die Zeitungskrise in Amerika vorhersagte, dass es schon im Mai keine gedruckte New York Times mehr geben werde.

Jeder kannte die Zahlen, die im Atlantic standen, nur bislang hatte sich niemand so recht getraut, in aller Härte daraus die Schlüsse zu ziehen. Durch die branchenüblichen Einbrüche in Auflage und Werbeeinnahmen hat die Times einen Schuldenberg von 1 Milliarde Dollar angehäuft - obwohl ihre Auflage in den vergangenen 15 Jahren weniger drastisch gesunken ist als die anderer Blätter, nämlich von 1,18 Millionen im Jahr 1993 auf 1 Million im Jahr 2008.

Dafür wirkten bei der Times zwei unternehmerische Entscheidungen krisenverschärfend: der Bau des neuen Verlagshauses und der Umstand, dass der Verleger Arthur Sulzberger jr. noch im vergangenen Jahr große Mengen eigener Aktien zurückkaufte - und das zu einem Preis, der nach heutigen Maßstäben als völlig überteuert gelten muss. Immerhin waren eine Zeitlang die Erlöse aus der Internetausgabe stetig gestiegen - die Seite nytimes.com rangiert auf der Liste der am meisten besuchten Internetseiten auf Platz 61, vor jeder anderen Zeitung der Welt -, konnten aber nie die starken Einbußen im Printbereich ausgleichen. Und inzwischen hat die Wirtschaftskrise auch das Internetgeschäft stark beschädigt.

An flüssigen Reserven bleiben dem Verlag jetzt gerade einmal 46 Millionen Dollar. 380 Millionen an Tilgungszahlungen sind jedoch schon in den kommenden Wochen fällig, weitere 99 Millionen im November und noch einmal 250 Millionen in einem Jahr. Und die Times hat kaum Möglichkeiten, diesen Betrag zu finanzieren. Die Kredit-Rating-Agenturen haben eine Investition in diese Zeitung als "Junk", als "Müll", eingestuft. Kreditaufnahme per Wertpapierverkauf ist also praktisch ausgeschlossen. Die Finanzkrise hat die Situation zugespitzt, Bankkredite sind ohnehin kaum noch zu haben und das Anzeigengeschäft sinkt weiter.

Immerhin bekam die Times nach dem apokalyptischen Artikel im Atlantic einen unerwarteten Rettungsring zugeworfen. Der mexikanische Multimilliardär Carlos Slim erklärte sich bereit, der Zeitung einen Kredit von 250 Millionen Dollar zu geben. Slim willigte dabei sogar ein, sich an die ehernen Regeln der Times zu halten: Das Darlehen gibt dem Tycoon kein Recht, auf die Geschäftsentscheidungen oder gar auf den Inhalt der Zeitung Einfluss zu nehmen. Vorerst wird er sich mit dem stolzen jährlichen Zinssatz von etwas mehr als 14 Prozent begnügen. Einstweilen zumindest bleibt die duale Struktur der Anteilseigner bestehen, die gewährleistet, dass alleine die Verlegerfamilie Sulzberger über die Geschicke des Blattes bestimmt.

Die Sulzbergers sind seit drei Generationen Garanten dafür, dass die Times der Inbegriff des unabhängigen Qualitätsjournalismus ist. Sie sind die letzte große amerikanische Verlegerdynastie, für die das Führen einer Zeitung nicht in erster Linie ein Geschäft ist, sondern eine Mission, ein ziviler Auftrag. "Sulzberger-Kinder bekamen schon immer von frühester Kindheit an beigebracht, dass sie Diener des öffentlichen Wohls sind", schrieb das New York Magazine jüngst in einem Porträt der Familie. "Wenn Arthur Sulzberger jr. nur noch zwanzig Prozent dessen verdienen würde, was er heute verdient, und dafür die Institution der Times rettet, dann wäre er glücklich, weil es das ist, was ihm wichtig ist."

Daran, dass die Sulzbergers den Kreditgeber tatsächlich auf Dauer aus den Entscheidungen heraushalten und somit ihre Unabhängigkeit wahren können, bestehen freilich ebenso Zweifel wie an den Motiven des Tycoons. "Es ist naiv zu glauben, man könne das Geld von jemandem wie Slim annehmen, ohne die Marke der Times zu beschädigen", schrieb etwa das linke Internetmagazin "Slate". Einstweilen erlaubt es die Finanzspritze aus Mexiko der Times jedoch, weiterzumachen ohne, wie die Los Angeles Times, die Chicago Tribune oder andere große amerikanische Zeitungen, durch Massenentlassungen von Redakteuren die Qualität zu mindern. Zumindest für ein paar Wochen oder bestenfalls Monate jedenfalls.

Doch es ist nur eine Gnadenfrist. Man weiß das bei der Times und dennoch hofft man irgendwie, dass sich die Marke Times, dass sich der Qualitätsjournalismus schließlich doch durchsetzen wird. Erst in der vergangenen Woche erläuterte Chefredakteur Bill Keller auf der Website den Lesern geduldig, warum er trotz allem an das Überleben seines Blattes glaubt: "Ich bin ein unverbesserlicher Optimist, was die Zukunft des guten Journalismus angeht", schrieb er. Es gebe bei einem rapide schwindenden Angebot eine ungebrochene Nachfrage an gutem Journalismus, jener Art von Journalismus , "bei dem erfahrene Reporter hinausgehen und recherchieren, mit Leuten reden und Akten durchwühlen, ihre Fakten immer wieder überprüfen und mit Redakteuren zusammenarbeiten, die hohe Standards fordern und durchsetzen". Jener Art von Journalismus eben, den man brauche, um "ein engagierter Staatsbürger" zu sein, und den die Times als eines der letzten Medien der USA bietet.

Den hohen Anspruch durchzuhalten ist für Keller und Sulzberger der einzig denkbare Weg. Als "Last-Man-Standing-Taktik" wird dieses Vorgehen bezeichnet, und erst Anfang Februar versuchte die Times-Geschäftsführerin Janet Robinson, von den Erfolgsaussichten dieser Taktik zu überzeugen: "Dass andere Zeitungen ihre Berichterstattung zusammenstreichen oder ganz ihren Betrieb einstellen, eröffnet hervorragende Möglichkeiten für die Times, in diese Lücke zu stoßen." Die Times soll den gesamten Bedarf an hochwertigem Journalismus auf sich ziehen, der inmitten einer wachsenden publizistischen Wüstenei unbefriedigt bleibt.

Das Medium ist dabei für die Verantwortlichen sekundär. "Uns kommt es vor allem darauf an, dass wir eine vertrauenswürdige Stimme bleiben", sagte Sulzberger kürzlich in einem Interview. "Leider können wir es uns dabei nicht leisten, auf dem Medium Print zu beharren. Wir müssen mit unserem Produkt dorthin gehen, wo unsere Leser uns haben wollen." So sieht das auch Keller, der eine langsame Verlagerung der kompletten Times ins Netz vorhersieht: "Ich gehe davon aus, dass wir noch lange einen Mix aus Print und Online anbieten, wobei das Wachstum im Netz den hoffentlich langsamen Verfall von Print nach und nach wettmacht."

Die Redakteure sind ihrem Arbeitgeber für die "Last-Man-Standing-Takitik", also für ihr kompromissloses Bekenntnis zur Qualität, dankbar. Auch wenn sie den Optimismus ihrer Chefs nicht immer teilen. In einem Artikel zur eigenen Sache am vergangenen Montag schrieb Richard Perez Pena: "Last Man Standing ist ja sehr schön, aber erst einmal müssen wir da überhaupt hinkommen." Doch auch wenn das nicht klappt, wollen die Times-Leute allemal lieber als erstklassiges Blatt untergehen als ein Produkt herstellen, mit dem sie sich nicht mehr identifizieren können. "Es herrscht sicherlich eine sehr gedämpfte Stimmung bei der Zeitung im Moment", sagt etwa Karen Schneider, eine altgediente Politikredakteurin und Pulitzerpreisträgerin. "Aber eines ist sicher, wir sind alle zutiefst dankbar dafür, dass wir bei der Times sind und nicht irgendwo anders. Wir wollen herausragende Arbeit leisten und es ist unglaublich motivierend, dass Bill und Arthur uns darin bestärken." Eine andere, kompromittierte Art des Journalismus kommt für Times-Leute nicht in Frage, und eine Welt, in der es diesen nicht mehr gibt, ist keine Welt, die sie sich ausmalen möchten. "Es ist einfach nicht fassbar, dass es etwas, das so zentral für die Demokratie, für dieses Land und für diese Gesellschaft ist, nicht mehr geben soll", sagt Nathan Finkelstein.

Auch George Wallace möchte nicht in einer Welt ohne Times leben. Der 68-Jährige ist Sportredakteur und durch und durch Zeitungsmann. Seine Eltern haben sich in den Dreißigerjahren bei der Long Island Press kennen gelernt, sein Bruder arbeitet bei der New York Post, und alle drei seiner Kinder arbeiten bei Zeitungen. Wallace hat für die Times über alles Mögliche geschrieben, er war Korrespondent in den Appalachen, dann im Vatikan, auch von der letzten Fußballweltmeisterschaft hat er berichtet. Jetzt hat er noch einen großen Wunsch: "Ich werde bald in den Ruhestand gehen und an diesem Tag möchte ich eine Ausgabe der Times an meiner Türschwelle finden."

Wenn Wallace nicht mehr allzu lange mit seinem Ruhestand wartet, könnte er Glück haben. Nathan Finkelstein, Karen Schneider und die meisten der 1.300 anderen Redakteure dürfen hingegen solche Hoffnungen wohl kaum mehr hegen.

Die Namen der Redakteure wurden auf eigenen Wunsch geändert.

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